In der modernen Arbeitswelt, besonders in der agilen Softwareentwicklung, jonglieren wir täglich mit verschiedenen Rollen und Erwartungen. Als Product Owner müssen wir strategisch denken, als Teammitglied kollaborativ arbeiten und gleichzeitig unsere privaten Bedürfnisse im Blick behalten. Wie können wir diese verschiedenen Anforderungen unter einen Hut bringen? Das 3-Welten-Modell von Bernd Schmid bietet hier einen wertvollen Orientierungsrahmen.
1. Die drei Welten unseres beruflichen Alltags
Das Modell beschreibt drei distinkte “Welten”, in denen wir uns parallel bewegen: die Privatwelt, die Professionswelt und die Organisationswelt. Jede dieser Welten hat ihre eigenen Regeln, Erwartungen und Dynamiken. In der Privatwelt sind wir vielleicht Elternteil oder Partner, in der Professionswelt Entwickler oder Scrum Master, und in der Organisationswelt Teammitglied oder Führungskraft.
Was auf den ersten Blick wie eine simple Kategorisierung erscheint, offenbart bei näherer Betrachtung tiefe Einblicke in die Komplexität unserer täglichen Arbeit. Besonders in agilen Teams, wo die Grenzen zwischen verschiedenen Rollen oft fließend sind, hilft das Modell, Spannungen und Konflikte besser zu verstehen und zu navigieren.
2. Rollenkonflikte in der agilen Welt
Nehmen wir das Beispiel einer Entwicklerin in einem Scrum-Team. In ihrer Professionswelt strebt sie nach technischer Exzellenz und möchte komplexe Algorithmen perfektionieren. Die Organisationswelt des agilen Teams fordert jedoch schnelle Iterationen und pragmatische Lösungen. Gleichzeitig hat sie in ihrer Privatwelt den Wunsch nach einem ausgewogenen Work-Life-Balance.
Diese verschiedenen Anforderungen können zu inneren Konflikten führen. Das 3-Welten-Modell hilft uns, diese Spannungen nicht als persönliches Versagen zu interpretieren, sondern als natürliche Konsequenz unserer verschiedenen Rollen zu verstehen. Es ermöglicht uns, bewusster mit diesen Konflikten umzugehen und aktiv nach Balancen zu suchen.
3. Die erweiterte Perspektive: Ich-, Du- und Wir-Welt
Ergänzend zu den drei Hauptwelten gibt es noch die Dimensionen der Ich-, Du- und Wir-Welt. Diese Erweiterung ist besonders relevant für agile Teams, in denen Selbstorganisation und Zusammenarbeit zentrale Prinzipien sind. Die Ich-Welt betrifft unsere emotionale Intelligenz und Selbstwahrnehmung, die Du-Welt unsere zwischenmenschlichen Beziehungen, und die Wir-Welt das Teamgefühl und die gemeinsamen Ziele.
4. Praktische Anwendung in agilen Teams
Das Modell bietet mehrere praktische Anwendungsmöglichkeiten im agilen Kontext:
- **Retrospektiven neu denken **Statt nur über Prozesse zu sprechen, können Teams das 3-Welten-Modell nutzen, um tieferliegende Spannungen zu identifizieren und zu addressieren.
- **Kommunikation verbessern **Wenn wir verstehen, aus welcher “Welt” jemand spricht, können wir besser auf die jeweiligen Bedürfnisse und Perspektiven eingehen.
- **Persönliche Entwicklung fördern **Das Modell hilft Teammitgliedern, ihre verschiedenen Rollen bewusster wahrzunehmen und gezielt an ihrer Entwicklung zu arbeiten.
5. Der Weg zur Balance
Die Kunst liegt nicht darin, die verschiedenen Welten strikt zu trennen — das wäre in der agilen Arbeit weder möglich noch wünschenswert. Vielmehr geht es darum, ein Bewusstsein für die verschiedenen Kontexte zu entwickeln und aktiv nach Synergien zu suchen.
Ein Product Owner kann beispielsweise seine Fähigkeiten aus der Privatwelt (etwa als Kapitän einer Wasserballmannschaft) nutzen, um in der Organisationswelt besser mit verschiedenen Stakeholdern umzugehen. Eine Entwicklerin kann ihre professionelle Problemlösungskompetenz einsetzen, um Teamkonflikte konstruktiv anzugehen.
6. Die Komplexität überlappender Welten
Die Überschneidung verschiedener Welten kann besonders in Startup-Umgebungen zu herausfordernden Situationen führen. Als Gründer und CTO eines Startups erlebte ich diese Komplexität hautnah. Viele meiner Teammitglieder waren nicht nur Kollegen, sondern sind auch enge Freunde geworden. Wir teilten Hobbys, verbrachten Freizeit miteinander und arbeiteten gleichzeitig an komplexen technischen Herausforderungen.
Diese Vermischung der Welten führte anfangs zu schwierigen Situationen. In Code Reviews zum Beispiel fiel es schwer, notwendige kritische Rückmeldungen zu geben, ohne dass sie als persönlicher Angriff wahrgenommen wurden. Mittagspausen und private Treffen verwandelten sich unmerklich in Arbeitsmeetings, während eigentlich Erholung und persönlicher Austausch im Vordergrund stehen sollten.
Ein entscheidender Wendepunkt kam durch die Zusammenarbeit mit unserem Coach Klaus, der uns auf diese Dynamik aufmerksam machte. Er führte uns das 3-Welten-Modell vor Augen und zeigte, wie wichtig es ist, sich der jeweiligen Rolle bewusst zu sein. Diese Erkenntnis veränderte unsere Zusammenarbeit grundlegend.
Von da an etablierten wir klare Kommunikationsmuster. Wenn technische Entscheidungen anstanden, benannten wir explizit den professionellen Kontext:
Aus meiner technischen Professionsrolle sehe ich die Gefahr, dass diese Entscheidung langfristig hohe technische Schulden verursachen wird.
Bei persönlichen Treffen nach der Arbeit vereinbarten wir bewusst, Geschäftliches außen vor zu lassen. Diese klare Trennung half allen Beteiligten, die verschiedenen Rollen besser zu navigieren.
Besonders wertvoll erwies sich diese Klarheit in Konfliktsituationen. Wenn beispielsweise in der Retrospektive kritische Themen aufkamen, half das Bewusstsein für die verschiedenen Welten dabei, Sachebene und persönliche Beziehung zu trennen. Die private Freundschaft musste nicht unter professionellen Meinungsverschiedenheiten leiden.
Diese Erfahrung zeigte, dass die Überschneidung der Welten nicht nur Herausforderungen, sondern auch Chancen bietet. Das in der Privatwelt aufgebaute Vertrauen stärkte die professionelle Zusammenarbeit. Gleichzeitig half das gegenseitige professionelle Verständnis dabei, auch private Beziehungen auf eine reifere Ebene zu heben. Der Schlüssel lag darin, diese verschiedenen Rollen nicht als Widerspruch, sondern als sich ergänzende Facetten zu begreifen.
7. Das 3-Welten-Modell in der Retrospektive
Die Retrospektive bietet einen idealen Rahmen, um das 3-Welten-Modell praktisch anzuwenden. In meinem Startup hatten wir dafür ein einfaches, aber effektives Format entwickelt. Statt der üblichen “Was lief gut/schlecht?”-Fragen strukturieren wir die Retrospektive nach den drei Welten.
Ein Beispiel aus der Praxis: In einer Retrospektive äußerte ein Entwickler Frustration über häufige Unterbrechungen durch Support-Anfragen. Auf den ersten Blick ein reines Organisationsproblem. Als wir die Situation durch die Linse der drei Welten betrachteten, zeigte sich ein komplexeres Bild:
- In der Professionswelt fühlte er sich durch die Unterbrechungen in seiner Entwicklerexzellenz eingeschränkt.
- In der Organisationswelt stand er im Konflikt zwischen Team-Support und Sprint-Commitments.
- Die Privatwelt litt unter dem ständigen Kontext-Switching, das bis in den Feierabend nachwirkte.
Diese mehrschichtige Analyse führte zu einer nachhaltigeren Lösung: Wir führten nicht nur Support-Rotationen ein (Organisationswelt), sondern etablierten auch Weiterbildungen im Bereich Zeitmanagement (Professionswelt) und vereinbarten Unternehmensweit klare Grenzen für die Erreichbarkeit nach Feierabend (Privatwelt).
8. Kommunikationsmuster für klare Rollentrennung
Die Erfahrung hat gezeigt, dass bestimmte Kommunikationsmuster besonders hilfreich sind, um zwischen den Welten zu navigieren. Hier sind die wichtigsten Praktiken, die sich in meinem Unternehmen bewährt hatten:
- Explizite Kontext-Markierung Zu Beginn eines Gesprächs wird der Kontext benannt. “Ich spreche jetzt als Tech Lead…” oder “Das ist jetzt ein privates Feedback…” Diese simple Praxis verhindert viele Missverständnisse.
- **Rollenbasierte Meetingformate **Technische Diskussionen finden in dezidierten Formaten statt, getrennt von persönlichen Gesprächen. Ein Mittagessen bleibt ein Mittagessen, keine getarnte Architektur-Diskussion.
- **Feedback-Protokoll **Bei kritischem Feedback hat sich bewährt, zunächst die “Welt” zu benennen, aus der das Feedback kommt. “Aus technischer Sicht sehe ich folgende Probleme…” macht klar, dass es nicht um persönliche Kritik geht.
9. Die Ich-, Du- und Wir-Welt stärken
Die erweiterte Perspektive der Ich-, Du- und Wir-Welt hatte meinem Unternehmen eine zusätzliche Dimension der Zusammenarbeit eröffnet:
9.1 Ich-Welt stärken
Regelmäßige Selbstreflexions-Sessions
In diesen Sessions, die alle zwei Wochen stattfinden, nehmen sich die Teammitglieder 30 Minuten Zeit, um ihre aktuellen Rollen, Herausforderungen und Ziele in den drei Welten zu reflektieren. Sie nutzen dafür ein vorgefertigtes Template mit Fragen wie “Welche Rolle nehme ich gerade ein?”, “Welche Erwartungen sind mit dieser Rolle verbunden?”, “Wo gibt es Konflikte?” und “Was brauche ich, um meine Ziele zu erreichen?”.
Persönliche Entwicklungsziele
Persönliche Entwicklungsziele werden explizit in den Quartalsplanungen des Teams aufgenommen und regelmäßig besprochen.
“Mental Health Days”
Jeder Mitarbeiter hat die Möglichkeit, pro Quartal einen “Mental Health Day” zu nehmen, um sich zu erholen und neue Energie zu tanken.
9.2 Du-Welt fördern
Pair-Programming-Sessions mit wechselnden Partnern
Durch regelmäßiges Pair-Programming mit wechselnden Partnern lernen die Teammitglieder, die Perspektiven und Arbeitsweisen ihrer Kollegen besser zu verstehen und voneinander zu lernen.
Regelmäßige 1:1-Gespräche
Führungskräfte führen alle zwei Wochen 1:1-Gespräche mit ihren Mitarbeitern, in denen sowohl technische als auch persönliche Themen besprochen werden.
Konstruktives Feedback-Training
Alle Teammitglieder nehmen an einem Training teil, in dem sie lernen, konstruktives Feedback zu geben und anzunehmen.
9.3 Wir-Welt entwickeln
Teamgeist stärken
Um den Teamgeist zu stärken, haben wir verschiedene Team-Rituale etabliert, z.B. gemeinsame Architektur-Workshops, in denen wir komplexe technische Herausforderungen gemeinsam lösen, oder “Code Retreats”, bei denen wir uns einen Tag lang intensiv mit neuen Technologien auseinandersetzen.
Geteilte Verantwortung für Teamziele
Alle Teammitglieder übernehmen Verantwortung für die Erreichung der gemeinsamen Teamziele.
Gemeinsame Erfolge feiern
Wir feiern gemeinsam Erfolge, auch kleine Meilensteine, z.B. mit einem gemeinsamen Mittagessen oder einem kleinen Geschenk für jedes Teammitglied.
10. Fazit: Ein Werkzeug für die moderne Arbeitswelt
Das 3-Welten-Modell ist mehr als ein theoretisches Konstrukt — es ist ein praktisches Werkzeug für die Navigation durch die Komplexität der modernen Arbeitswelt. Besonders in agilen Teams, wo traditionelle Hierarchien und Rollenverständnisse aufbrechen, bietet es Orientierung und Unterstützung.
Indem wir unsere verschiedenen “Welten” bewusst wahrnehmen und gestalten, können wir nicht nur Konflikte besser bewältigen, sondern auch das volle Potenzial unserer verschiedenen Rollen ausschöpfen. In einer Zeit, in der die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben zunehmend verschwimmen, wird diese Fähigkeit immer wichtiger.
Das Modell erinnert uns daran, dass wir nicht nur Funktionsträger in einem agilen Team sind, sondern ganze Menschen mit verschiedenen Rollen und Bedürfnissen. Diese Erkenntnis kann uns helfen, authentischer und effektiver in allen unseren “Welten” zu agieren.