Ein detaillierter Einblick in die Staffing-Strategien erfolgreicher Produktorganisationen, basierend auf den Erkenntnissen von Marty Cagan und Chris Jones
In der Technologiebranche wird oft über Innovationen, Technologien und Produkte gesprochen. Doch der wahre Unterschied zwischen mittelmäßigen und herausragenden Unternehmen liegt nicht in der Technologie selbst, sondern in den Menschen, die diese Produkte entwickeln. Wie Jeff Bezos es ausdrückt: “Die wichtigste Entscheidung bei Amazon war und ist die Einstellung der richtigen Talente.”
1. Competence und Character: Die Grundpfeiler erfolgreicher Teams
1.1 Die Bedeutung von Vertrauen
Stephen Covey bringt es auf den Punkt: “Trust is a function of two things: competence and character.” Vertrauen basiert auf Kompetenz und Charakter — zwei untrennbare Elemente, die den Grundstein für erfolgreiche Produktteams bilden.
1.2 Der Mythos der “10X-Performer”
Ein weitverbreiteter Irrtum ist die Annahme, dass man für herausragende Teams nur die “Besten der Besten” oder “10X-Performer” einstellen müsse. Die Realität zeigt ein anderes Bild: Die erfolgreichsten Produktunternehmen stellen kompetente Menschen mit starkem Charakter ein und entwickeln sie zu außergewöhnlichen Teams.
Zwar gibt es durchaus 10X-Mitarbeiter, die zehnmal produktiver sind als ihre Kollegen. Doch ihre bloße Präsenz garantiert keine entsprechenden Resultate. Im Gegenteil: Wenn diese hochproduktiven Mitarbeiter toxische Verhaltensweisen mitbringen, können sie dem Unternehmen mehr schaden als nutzen.
1.3 Die “No Assholes Rule”
Ein besonders lehrreiches Beispiel kommt von den New Zealand All Blacks, dem erfolgreichsten Sportteam der Geschichte. Ihre “No Assholes Rule” ist ebenso simpel wie effektiv: Egal wie talentiert jemand ist — toxische Persönlichkeiten werden nicht geduldet. Diese Regel hat maßgeblich zu ihrer über 100-jährigen Dominanz beigetragen.
1.4 Jenseits des “Cultural Fit”
Ein häufiger Fehler vieler Unternehmen ist die übermäßige Fokussierung auf “Cultural Fit”. Dieser Begriff wird oft missbraucht, um Menschen einzustellen, die “so sind wie wir”. Das führt zu Homogenität statt Diversität und schadet der Innovation.
Stattdessen sollten Unternehmen gezielt nach Menschen suchen, die anders denken:
- Menschen mit unterschiedlicher Ausbildung
- Menschen mit verschiedenen Lebenserfahrungen
- Menschen aus unterschiedlichen Kulturen
- Menschen mit anderen Problemlösungsansätzen
2. Aktives Recruiting: Eine strategische Kernkompetenz
In der Welt der Produktentwicklung hat sich ein fundamentales Missverständnis eingeschlichen: Viele Unternehmen sehen Recruiting als administrative Aufgabe, die hauptsächlich von HR gesteuert wird. Doch die erfolgreichsten Technologieunternehmen praktizieren einen völlig anderen Ansatz. Sie verstehen Recruiting als strategische Kernkompetenz, die aktiv vom Hiring Manager vorangetrieben werden muss.
2.1 Die Rolle des Hiring Managers
Der moderne Hiring Manager agiert wie ein Sporttrainer auf Talentsuche. Statt passiv auf Lebensläufe zu warten, die HR weiterleitet, geht er aktiv auf die Suche nach den richtigen Menschen für sein Team. Dies bedeutet:
- Aktive Identifikation von Talenten in verschiedenen Kontexten
- Persönliches Kennenlernen potenzieller Kandidaten, oft lange bevor eine Position offen ist
- Aufbau langfristiger Beziehungen, die ĂĽber das reine Recruiting hinausgehen
- Entwicklung von Mentoring und Coaching-Beziehungen
Diese proaktive Herangehensweise mag zunächst zeitaufwändiger erscheinen, zahlt sich aber langfristig durch bessere Einstellungsentscheidungen und höhere Erfolgsquoten aus.
2.2 Kontinuierliche Talentsuche
Ein häufiger Fehler ist es, mit dem Recruiting erst zu beginnen, wenn eine Position zu besetzen ist. Erfolgreiche Manager verstehen, dass der Aufbau eines Talent-Netzwerks eine kontinuierliche Aufgabe ist. Sie nutzen jede Gelegenheit, um mit interessanten Menschen in Kontakt zu kommen:
- Sie nehmen aktiv an Branchenkonferenzen teil, nicht nur als Zuhörer, sondern als Networker
- Sie engagieren sich bei Professional Meetups und bauen dort persönliche Beziehungen auf
- Sie nutzen Besuche bei Partnern und Kunden, um Talente zu identifizieren
- Sie pflegen ihr Referral-Netzwerk systematisch
- Sie verstehen, dass auch soziale Kontakte wichtige Recruiting-Kanäle sein können
2.3 Die Macht der Produktvision
Eine der effektivsten, aber oft unterschätzten Recruiting-Waffen ist eine überzeugende Produktvision. In einer Zeit, in der talentierte Menschen nicht nur nach einem Job, sondern nach Sinn und Bedeutung suchen, kann eine inspirierende Vision den Unterschied machen. Eine starke Produktvision:
- Zieht intrinsisch motivierte Menschen an, die mehr wollen als nur einen Gehaltsscheck
- Schafft eine emotionale Verbindung zum Unternehmen und seinen Zielen
- Vermittelt Sinn und Zweck der täglichen Arbeit
- Differenziert das Unternehmen von Wettbewerbern, die nur mit Gehalt und Benefits werben
2.4 Interne Talentsuche
Während viele Unternehmen sich auf externe Kandidaten konzentrieren, übersehen sie oft die Talente in den eigenen Reihen. Die besten Manager haben gelernt, dass hervorragende Produkttalente häufig bereits im Unternehmen zu finden sind — nur in anderen Rollen. Sie:
- Identifizieren Smart Generalists, die in verschiedenen Abteilungen bereits durch ihre Problemlösungsfähigkeiten aufgefallen sind
- Erkennen Potenzial jenseits aktueller Rollenbeschreibungen
- Fördern aktiv interne Mobilität, auch wenn dies manchmal bedeutet, gute Leute aus anderen Abteilungen “abzuwerben”
- Investieren in die gezielte Weiterentwicklung interner Talente
3. Der strukturierte Interview-Prozess: Mehr Kunst als Wissenschaft
Der Interview-Prozess ist oft der kritischste Moment im Staffing. Hier entscheidet sich, ob die investierte Zeit in Recruiting und Netzwerken sich auszahlt. Doch ĂĽberraschenderweise ist dies auch der Bereich, in dem viele Unternehmen die grundlegendsten Fehler machen.
3.1 Die Kunst der Interview-Team-Zusammenstellung
Die Auswahl des Interview-Teams ist keine demokratische Übung, bei der jeder mitmachen darf, der Interesse hat. Stattdessen sollte das Team sorgfältig kuratiert werden. Jedes Teammitglied sollte nicht nur fachlich kompetent sein, sondern auch charakterlich überzeugen. Die besten Interview-Teams zeichnen sich durch folgende Eigenschaften aus:
- Jedes Mitglied ist selbst eine Person, mit der starke Kandidaten gerne arbeiten — aber auch ein Biertrinen würden
- Die Interviewer verstehen ihre spezifische Rolle im Gesamtprozess
- Das Team ist gut vorbereitet und koordiniert
- Die Mitglieder haben Erfahrung in ihrer Bewertungsdomäne
Ein häufiger Fehler ist es, zu viele Personen in den Prozess einzubinden, nur um “inklusiv” zu sein. Dies führt oft zu einer Verwässerung der Standards und macht den Prozess ineffizient.
3.2 Die “4 Attribute”-Frage: Ein Fenster zur Selbstreflexion
Eine der aufschlussreichsten Interview-Techniken ist die Bewertung von vier Kernattributen. Diese Frage kommt typischerweise gegen Ende des Interviews und wird folgendermaĂźen eingeleitet:
“Ich möchte Ihnen vier breite Arbeitsattribute nennen. Als Produktmensch erwarte ich, dass Sie in allen stark sind. Aber ich bezweifle, dass Sie sich in allen gleich kompetent fühlen. Bitte ordnen Sie diese von Ihrer größten bis zu Ihrer geringsten Stärke.”
Die vier Attribute sind:
3.2.1 Execution
Die Fähigkeit zur Umsetzung ist fundamental. Hier geht es um:
- Die selbstständige Erledigung von Aufgaben
- Das Management multipler Ziele
- Die Fähigkeit, Dinge ohne explizite Anweisung voranzutreiben
3.2.2 Creativity
Kreativität im Produktkontext bedeutet mehr als nur “kreativ sein”:
- Qualität und Quantität der Lösungsideen
- Die Fähigkeit, über offensichtliche Lösungen hinauszudenken
- Innovatives Problemlösungsverhalten
3.2.3 Strategy
Strategisches Denken zeigt sich in:
- Der Fähigkeit, Einzelaspekte in größere Zusammenhänge einzuordnen
- Dem Verständnis für Marktdynamiken
- Der Kommunikation komplexer Visionen
3.2.4 Growth
Wachstumsdenken manifestiert sich durch:
- Die Entwicklung skalierbarer Prozesse
- Effektives Teammanagement
- Die Fähigkeit, Wirkung zu multiplizieren
Die Art und Weise, wie Kandidaten diese Frage beantworten, sagt oft mehr aus als die eigentliche Antwort. Besonders aufschlussreich sind:
- Die Tiefe der Selbstreflexion
- Die Bereitschaft, über eigene Schwächen zu sprechen
- Die Fähigkeit, die eigene Entwicklung zu analysieren
4. Der Hiring-Prozess: Schnelle Entscheidungen, grĂĽndliche PrĂĽfung
Der Hiring-Prozess ist ein kritischer Moment, in dem viele Unternehmen scheitern — entweder durch zu langsame Entscheidungen oder durch oberflächliche Prüfungen. Die Kunst liegt darin, sowohl schnell als auch gründlich zu sein. Dies mag zunächst wie ein Widerspruch erscheinen, aber die erfolgreichsten Technologieunternehmen haben Wege gefunden, beides zu vereinen.
4.1 Die 48-Stunden-Regel: Warum Geschwindigkeit entscheidend ist
In der heutigen, schnelllebigen Technologiebranche ist Zeit einer der kritischsten Faktoren im Hiring-Prozess. Die besten Kandidaten haben meist mehrere Optionen, und die Art, wie ein Unternehmen Entscheidungen trifft, sagt viel über seine Kultur aus. Ein schleppender Entscheidungsprozess signalisiert nicht etwa Gründlichkeit, sondern oft organisatorische Schwäche.
Die führenden Technologieunternehmen haben daher die 48-Stunden-Regel etabliert: Innerhalb von zwei Tagen nach dem letzten Interview sollte eine Entscheidung getroffen werden. Dies erfordert eine präzise Orchestrierung des gesamten Prozesses:
- Interview-Feedback muss unmittelbar nach jedem Gespräch dokumentiert werden
- Das Hiring-Team muss sich schnell koordinieren können
- Angebotspakete sollten bereits vorbereit sein
- Entscheidungswege mĂĽssen klar definiert sein
Verzögerungen über diesen Zeitrahmen hinaus sind mehr als nur ein organisatorisches Problem — sie können weitreichende Konsequenzen haben. Gute Kandidaten interpretieren langsame Entscheidungsprozesse oft als Zeichen für eine schwerfällige Unternehmenskultur. In einer Branche, in der Agilität und schnelle Entscheidungsfindung zentrale Erfolgsfaktoren sind, ist dies ein fatales Signal.
4.2 Die Kunst der Referenzprüfung: Mehr als eine Formalität
Eine der häufigsten Fehleinschätzungen im Hiring-Prozess ist die Behandlung von Referenzchecks als administrative Formalität. Viele Unternehmen delegieren diese wichtige Aufgabe an HR oder externe Dienstleister. Dies ist ein fundamentaler Fehler, der die Qualität der Einstellungsentscheidungen massiv beeinträchtigen kann.
Die persönliche Durchführung von Referenzprüfungen durch den Hiring Manager ist aus mehreren Gründen von unschätzbarem Wert. Zunächst einmal geht es um den Toxizitäts-Check: Problematische Persönlichkeiten sind oft Meister darin, sich in Interviews gut zu präsentieren. Erst im direkten Gespräch mit früheren Arbeitgebern zeigen sich subtile Warnsignale, die ein erfahrener Manager erkennen kann.
Darüber hinaus bietet das persönliche Referenzgespräch die Möglichkeit, tiefer in den beruflichen Werdegang des Kandidaten einzutauchen. Während standardisierte Referenzprüfungen oft oberflächlich bleiben, kann ein gut geführtes Gespräch wertvolle Einblicke in:
- Die tatsächliche Arbeitsweise des Kandidaten
- Seine Entwicklung ĂĽber die Zeit
- Seine Stärken und Entwicklungsfelder
- Seine Wirkung im Team
Ein weiterer, oft übersehener Aspekt ist das Networking-Potenzial solcher Gespräche. Jedes Referenzgespräch ist auch eine Gelegenheit, das eigene professionelle Netzwerk zu erweitern und Einblicke in andere Organisationen zu gewinnen.
4.3 Social Media Screening: Das digitale Charakterzeugnis unserer Zeit
Die digitale Transformation hat nicht nur unsere Arbeitswelt verändert, sondern auch die Art und Weise, wie wir Persönlichkeiten einschätzen können. Das Online-Verhalten einer Person ist heute oft aussagekräftiger als ein zweistündiges Interview oder sorgfältig ausgewählte Referenzen. In den ungeschminkten Interaktionen auf Twitter, LinkedIn oder in technischen Foren zeigt sich der wahre Charakter eines Menschen — seine Reaktionen auf Kritik, sein Umgang mit anderen Meinungen, seine Fähigkeit zur konstruktiven Diskussion.
Führende Technologieunternehmen haben diese Erkenntnis längst in ihre Hiring-Prozesse integriert. Dabei geht es nicht um oberflächliche Background-Checks oder das Aufspüren möglicherweise peinlicher Partyfotos. Vielmehr suchen sie nach Mustern im Online-Verhalten, die Aufschluss über die Persönlichkeit des Kandidaten geben. Ein Developer, der in Stack Overflow regelmäßig herablassende Kommentare schreibt, wird dieses Verhalten mit hoher Wahrscheinlichkeit auch im Team zeigen. Ein Product Manager, der auf LinkedIn thoughtful Leadership-Content teilt und konstruktiv auf Kritik reagiert, bringt diese Qualitäten vermutlich auch in die Organisation ein.
Besonders aufschlussreich sind dabei:
- Die Qualität und der Ton der fachlichen Beiträge
- Der Umgang mit kontroversen Diskussionen
- Die Konsistenz des professionellen Auftretens
- Das Engagement in der Community
Diese digitalen Spuren zeichnen oft ein präziseres Bild der Persönlichkeit als sorgfältig vorbereitete Interviewantworten.
5. Span of Control: Die Wissenschaft der optimalen Teamgröße
Die Frage nach der richtigen Teamgröße gehört zu den komplexesten Herausforderungen im Staffing. Während viele Organisationen sich auf simple Faustregeln verlassen — etwa “nie mehr als acht direkte Berichte” — zeigt die Erfahrung erfolgreicher Technologieunternehmen, dass ein differenzierterer Ansatz nötig ist. Die optimale Span of Control ist keine statische Größe, sondern das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels verschiedener Faktoren.
Die Realität in modernen Produktorganisationen ist vielschichtig: Ein erfahrener Engineering Manager kann möglicherweise ein Team von 12–15 Senior Engineers effektiv führen, da diese weitgehend autonom arbeiten können. Ein Product Manager hingegen, der als Player-Coach agiert und neben der Führungsrolle auch noch operative Produktverantwortung trägt, kann vielleicht nur 2–3 direkte Berichte optimal betreuen. Die Kunst liegt darin, diese verschiedenen Faktoren richtig zu gewichten und eine Balance zu finden, die sowohl für den Manager als auch für das Team funktioniert.
5.1 Die vier Dimensionen der Teamgröße: Ein tieferer Einblick
Die optimale Teamgröße wird von vier Hauptfaktoren bestimmt, die in ihrer Komplexität oft unterschätzt werden:
5.1.1 Operationale Verantwortung
Die strategische Komplexität einer Führungsrolle hat direkten Einfluss auf die mögliche Teamgröße. Ein Manager, der neben der Personalführung auch für übergreifende Strategien verantwortlich ist, steht vor einer besonderen Herausforderung. Die verfügbare Zeit und mentale Kapazität muss sorgfältig zwischen operativen Aufgaben und Führungsverantwortung aufgeteilt werden.
5.1.2 Erfahrungslevel im Team: Die Balance zwischen Autonomie und FĂĽhrungsbedarf
Die Zusammensetzung des Teams ist ein oft unterschätzter Faktor in der Span-of-Control-Gleichung. Ein Team aus erfahrenen Senior-Mitarbeitern funktioniert fundamental anders als ein Team mit vielen Juniors. Dies ist keine Frage der Qualität, sondern der benötigten Führungsintensität.
Erfahrene Mitarbeiter bringen nicht nur technische Expertise mit, sondern auch die Fähigkeit zur Selbstorganisation und eigenständigen Entscheidungsfindung. Sie kennen ihre Stärken und Grenzen, können Risiken besser einschätzen und wissen, wann sie Hilfe benötigen. Ein Team aus solchen Mitarbeitern erfordert weniger direkte Führung, aber dafür oft mehr strategische Guidance und Career Development.
Im Gegensatz dazu benötigen Junior-Mitarbeiter, unabhängig von ihrem Talent und Potenzial, typischerweise:
- Häufigeres Feedback und Coaching
- Klarere Strukturen und Vorgaben
- Mehr UnterstĂĽtzung bei der Priorisierung
- Intensivere fachliche Begleitung
Die Kunst liegt darin, den richtigen Mix zu finden. Ein ausgewogenes Team könnte beispielsweise aus einer Kombination von Senior-, Mid-Level- und Junior-Mitarbeitern bestehen, wobei die Seniors oft informell Mentoring-Rollen für die Juniors übernehmen.
5.1.3 Management-Erfahrung und -Fähigkeiten: Der Multiplikator-Effekt
Die Führungskompetenz des Managers selbst ist ein kritischer Faktor, der oft unterschätzt wird. Ein erfahrener Manager mit ausgeprägten Coaching-Fähigkeiten kann typischerweise mehr direkte Berichte effektiv führen — nicht weil er härter arbeitet, sondern weil er effizienter führt.
Diese Effizienz zeigt sich in verschiedenen Aspekten:
Coaching-Expertise
Ein erfahrener Manager hat über die Jahre einen Werkzeugkasten an Coaching-Techniken entwickelt. Er erkennt Muster schneller, kann Situationen besser einschätzen und weiß, welche Interventionen in welchem Moment am wirkungsvollsten sind. Dies ermöglicht es ihm, seine Zeit optimal einzusetzen und mehrere Mitarbeiter parallel in ihrer Entwicklung zu unterstützen.
Zeitmanagement
Mit zunehmender Erfahrung entwickeln Manager ein besseres GespĂĽr dafĂĽr, wie sie ihre Zeit am effektivsten einsetzen. Sie wissen:
- Wann ein kurzes Check-in ausreicht und wann ein längeres Gespräch nötig ist
- Wie sie Gruppendynamiken nutzen können, um mehrere Teammitglieder gleichzeitig zu entwickeln
- Wie sie Delegation effektiv als Entwicklungstool einsetzen können
Kommunikationseffizienz
Erfahrene Manager haben gelernt, ihre Kommunikation zu optimieren. Sie können:
- Komplexe Sachverhalte klar und prägnant vermitteln
- Erwartungen präzise setzen
- Feedback so geben, dass es direkt umsetzbar ist
- Meetings effizient moderieren und zielorientiert fĂĽhren
5.1.4 Organisatorische Komplexität: Das oft übersehene Puzzle
Die Einbettung in die Gesamtorganisation ist vielleicht der am häufigsten unterschätzte Faktor bei der Bestimmung der optimalen Teamgröße. Je größer und komplexer eine Organisation ist, desto mehr Zeit muss ein Manager für das “Managing up and across” aufwenden.
Diese Komplexität manifestiert sich auf verschiedenen Ebenen:
Stakeholder-Management:
In groĂźen Organisationen steigt die Anzahl der Stakeholder oft exponentiell. Jedes Projekt, jede Initiative erfordert Abstimmung mit verschiedenen Abteilungen und Interessengruppen. Dies bedeutet:
- Mehr Meetings und Abstimmungsrunden
- Komplexere Entscheidungsprozesse
- Höherer Kommunikationsaufwand
- Mehr politische Navigation
6. Fazit: Die strategische Bedeutung exzellenten Staffings
Die Kunst des Staffings in modernen Technologieunternehmen ist weit mehr als die bloße Besetzung offener Positionen. Sie ist ein strategischer Kernprozess, der über Erfolg oder Misserfolg von Produktorganisationen entscheiden kann. Die Erfahrungen der führenden Technologieunternehmen zeigen deutlich: Der Unterschied zwischen durchschnittlichen und herausragenden Organisationen liegt nicht primär in ihren Prozessen oder Tools, sondern in ihrer Fähigkeit, die richtigen Menschen zu finden, einzustellen und zu entwickeln.
Die zentrale Erkenntnis lautet: Erfolgreiche Produktorganisationen bauen nicht auf der Jagd nach den vermeintlich “besten” Talenten auf. Stattdessen fokussieren sie sich darauf, kompetente Menschen mit starkem Charakter zu finden und diese durch exzellentes Coaching zu Mitgliedern außergewöhnlicher Teams zu entwickeln. Dies erfordert einen ganzheitlichen Ansatz, der weit über traditionelles Recruiting hinausgeht.
Der Prozess beginnt mit aktivem Recruiting durch die Führungskräfte selbst. Manager erfolgreicher Teams verstehen, dass sie nicht passive Empfänger von HR-generierten Kandidatenlisten sein können, sondern aktive Gestalter ihrer Teamzusammensetzung sein müssen. Sie bauen kontinuierlich Netzwerke auf, pflegen Beziehungen zu potenziellen Kandidaten und schaffen eine Pipeline von Talenten, lange bevor konkrete Positionen zu besetzen sind.
Der Interviewprozess selbst wird zu einer strategischen Kompetenz entwickelt. Statt sich auf standardisierte Fragen und technische Assessments zu beschränken, nutzen erfolgreiche Organisationen sophisticated Ansätze, um sowohl Kompetenz als auch Charaktereigenschaften zu evaluieren. Die “4 Attribute”-Frage ist dabei nur ein Beispiel für Tools, die tiefere Einblicke in die Persönlichkeit und das Potenzial von Kandidaten ermöglichen.
Besonders wichtig ist das Verständnis für die optimale Teamgröße und -zusammensetzung. Die Span of Control ist keine starre Regel, sondern muss flexibel an die spezifischen Umstände der Organisation, die Erfahrung der Führungskraft und die Komplexität der Aufgaben angepasst werden. Dies erfordert ein tiefes Verständnis der verschiedenen Einflussfaktoren und die Fähigkeit, diese in ausgewogene Teamstrukturen zu übersetzen.
Letztendlich zeigt sich: Exzellentes Staffing ist keine isolierte Funktion, sondern ein integraler Bestandteil der Unternehmenskultur. Es verbindet sich eng mit Coaching, Personalentwicklung und der übergeordneten Produktstrategie. Unternehmen, die dies verstanden haben und entsprechend handeln, schaffen die Voraussetzungen für nachhaltige Innovation und Wettbewerbsfähigkeit.
Die Herausforderung für moderne Organisationen liegt darin, diese Erkenntnisse in ihre spezifische Realität zu übersetzen. Dies erfordert Mut zur Veränderung etablierter Prozesse, Investitionen in die Entwicklung von Führungskräften und ein tiefes Commitment zur kontinuierlichen Verbesserung der Staffing-Praktiken. Der Aufwand ist erheblich — aber die Ergebnisse, die die führenden Technologieunternehmen damit erzielen, zeigen deutlich: Es ist eine Investition, die sich mehrfach auszahlt.
7. [Schlusswort]
Als ich diese Kapitel las und die darin beschriebenen Best Practices der fĂĽhrenden Technologieunternehmen besser kennenlernte, wurde mir schmerzlich bewusst, wie weit mein aktueller Arbeitgeber von diesen Idealen entfernt ist. Zu oft sehe ich, wie Staffing als rein administrative HR-Aufgabe behandelt wird, wie Hiring Manager passiv auf eingehende Bewerbungen warten, statt aktiv zu rekrutieren, und wie der Fokus mehr auf schneller Stellenbesetzung als auf nachhaltiger Teamentwicklung liegt.
Ein besonders prägnantes Beispiel für diese Diskrepanz erlebten wir in den letzten Monaten mehrfach: Neue Teammitglieder tauchten buchstäblich an einem Montagmorgen im Büro auf, ohne dass das bestehende Team vorab informiert oder gar in den Auswahlprozess einbezogen worden wäre. Keine gemeinsamen Interviews, keine Evaluation der Team-Dynamik, keine Überprüfung der kulturellen Kompatibilität — nichts von dem, was in den vorherigen Kapiteln als essentiell beschrieben wurde. Wenn man diese Praxis mit den detaillierten Best Practices vergleicht, die wir diskutiert haben — von strategischem Recruiting über sorgfältige Interviews bis hin zur bewussten Gestaltung der Team-Zusammensetzung — wird die Kluft zwischen Theorie und unserer Realität geradezu schmerzlich deutlich.
Aber auch sonst ist die Diskrepanz zwischen dem “State of the Art” und unserer gelebten Realität ist teilweise ernüchternd: Oberflächliche Interviews statt tiefgehender Charakteranalysen, die Suche nach “kultureller Passung” statt echter Diversität, und ein Mangel an strategischem Denken bei der Teamzusammensetzung. Auch das Verständnis für die komplexen Zusammenhänge zwischen Teamgröße, Führungsspanne und organisatorischer Komplexität scheint oft zu fehlen.
Dennoch sehe ich diese Erkenntnisse nicht als Grund zur Resignation, sondern als Chance zur Veränderung. Mit dem Wissen um die Best Practices der Branche können wir beginnen, auch in unserem Unternehmen schrittweise Verbesserungen einzuführen. Jeder von uns, der diese Prinzipien versteht und lebt, kann ein Katalysator für Veränderung sein — sei es im eigenen Team, in der eigenen Abteilung oder durch konstruktive Vorschläge an das Management.
Meine Hoffnung ist es, durch das Teilen dieser Erkenntnisse und durch konsequentes Vorleben besserer Praktiken einen Beitrag zur Transformation unserer Unternehmenskultur zu leisten. Der Weg mag lang sein, aber jede große Veränderung beginnt mit kleinen Schritten. Und vielleicht können wir gemeinsam dazu beitragen, dass auch unser Unternehmen eines Tages zu jenen gehört, die für ihre exzellente Staffing-Kultur bekannt sind.