1. Einleitung: Das divisive Potenzial von Streiks in kollaborativen Arbeitsumgebungen
Streiks stellen ein fundamentales Instrument kollektiver Interessenvertretung dar, bei dem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Arbeit gemeinschaftlich niederlegen, um Druck auf den Arbeitgeber auszuüben. Sie sind oft ein notwendiges Mittel, um die Interessen abhängig Beschäftigter gegenüber Unternehmen und Arbeitgeberverbänden zu artikulieren und durchzusetzen. Historisch wurden viele arbeitsrechtliche Errungenschaften durch Arbeitskämpfe errungen, und auch heute noch bringen Streiks wichtige Themen wie Arbeitsbelastung oder Niedriglöhne auf die gesellschaftliche Agenda. Ohne die Möglichkeit des Streiks wären Tarifverhandlungen oft nur ein “kollektives Betteln”. Gleichzeitig sind Streiks jedoch inhärent konflikthaft und führen zwangsläufig zu Störungen der Betriebsabläufe, was ihre Wirksamkeit begründet.
Paradoxerweise können Streiks, obwohl sie auf kollektiven Nutzen abzielen, auch interne Spaltungen innerhalb der Belegschaft hervorrufen oder vertiefen. Dies geschieht insbesondere dann, wenn die Beteiligung an der Arbeitsniederlegung ungleichmäßig ist. Ein solches Szenario bildet den Untersuchungsgegenstand dieses Artikels.
Der konkrete Fall betrifft einen agilen Tribe innerhalb eines größeren Konzerns, in dem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus zwei unterschiedlichen Tochterunternehmen — einem Technologiebereich (Tech) und einem Fachbereich — zusammenarbeiten. Signifikante Unterschiede in der Mitarbeiterzufriedenheit (niedrig im Tech-Bereich, hoch im Fachbereich) korrelieren auffällig mit einer stark divergierenden Beteiligung an einem kürzlich vom Betriebsrat ausgerufenen Warnstreik im Rahmen von Tarifverhandlungen über die Vergütung. Während die Beteiligung aus dem Tech-Bereich sehr hoch war, nahm aus dem Fachbereich nur eine einzige Person teil.
Dies wirft die zentrale Frage auf: Wie können sozialwissenschaftliche, psychologische und kommunikationstheoretische Ansätze die beobachtete Spaltung zwischen Tech- und Fachbereichsmitarbeitern in ihrer Streikbeteiligung erklären, und welche potenziellen Konsequenzen ergeben sich daraus für Vertrauen, Zusammenhalt und Zusammenarbeit innerhalb des agilen Tribes?
Zur Beantwortung dieser Frage wird der Artikel zunächst relevante theoretische Rahmenwerke vorstellen, darunter das Gefangenendilemma aus der Spieltheorie, Paul Watzlawicks Kommunikationstheorie, die Theorie der sozialen Identität, die Theorie der relativen Deprivation sowie Gerechtigkeitstheorien. Anschließend werden diese Theorien auf den spezifischen Fall angewendet, wobei die Kontextfaktoren und die individuellen Entscheidungen zur (Nicht-)Teilnahme analysiert werden. Eine Synthese der Ergebnisse wird die beobachtete Spaltung erklären. Abschließend werden die potenziellen Folgen dieser Spaltung für das Teamgefüge und die Zusammenarbeit im agilen Kontext diskutiert.
2. Theoretische Rahmenwerke zum Verständnis von Streikverhalten und Spaltung
2.1 Spieltheorie und kollektives Handeln: Das Gefangenendilemma, Vertrauen und das Trittbrettfahrerproblem
Die Spieltheorie bietet Instrumente zur Analyse strategischer Interaktionen, in denen das Ergebnis für den Einzelnen von den Entscheidungen anderer Akteure abhängt. Sie untersucht Situationen von Konflikt und Kooperation und hilft, strategische Entscheidungssituationen besser zu verstehen, da rationale Akteure die Züge ihrer Gegenspieler antizipieren.
Ein zentrales Modell der Spieltheorie zur Erklärung von Kooperationsproblemen ist das Gefangenendilemma (Prisoner’s Dilemma, PD). Es beschreibt eine Situation, in der zwei Akteure unabhängig voneinander entscheiden mĂĽssen, ob sie kooperieren oder “defeÂktieren” (nicht kooperieren). Das Paradoxe daran ist, dass individuell rationale Entscheidungen (Defektion) zu einem Ergebnis fĂĽhren können, das fĂĽr beide Akteure schlechter ist als bei gegenseitiger Kooperation. Das sogenannte Nash-Gleichgewicht, bei dem kein Spieler einen Anreiz hat, einseitig von seiner Strategie abzuweichen, ist im klassischen PD oft nicht Pareto-effizient, d.h., es gäbe ein anderes Ergebnis, bei dem mindestens ein Spieler bessergestellt wäre, ohne den anderen schlechter zu stellen.
Die Entscheidung zur Streikteilnahme lässt sich als Gefangenendilemma modellieren. Hierbei entspricht die Kooperation der Teilnahme am Streik, um ein kollektives Ziel (z.B. einen besseren Tarifabschluss) zu erreichen. Die Defektion entspricht der Nicht-Teilnahme am Streik. Der einzelne Arbeitnehmer steht vor folgender Kalkulation:
- Wenn alle (oder viele) anderen streiken, ist der Streik potenziell erfolgreich. Der Nicht-Streikende profitiert vom Ergebnis (z.B. höhere Löhne), ohne die Kosten (Lohnausfall, Risiko von Repressalien) tragen zu müssen. Dies ist die Versuchung des “Trittbrettfahrens”.
- Wenn nur wenige oder keine anderen streiken, ist der Streik wahrscheinlich erfolglos. Der Streikende trägt die Kosten, ohne einen Nutzen zu erzielen. Der Nicht-Streikende vermeidet zumindest die Kosten.
Aus rein individueller, rationaler Sicht erscheint die Defektion (Nicht-Teilnahme) daher oft als dominante Strategie: Unabhängig davon, was die anderen tun, scheint es für den Einzelnen vorteilhafter zu sein, nicht zu streiken. Wenn alle dieser Logik folgen, kommt der Streik nicht zustande oder ist schwach, und das kollektiv bessere Ergebnis (erfolgreicher Streik) wird nicht erreicht.
Dieses Phänomen ist als Trittbrettfahrerproblem oder Kollektivgutproblem bekannt. Ein erfolgreicher Streik schafft ein Kollektivgut (z.B. bessere Tarifbedingungen), von dem potenziell alle profitieren, auch diejenigen, die nicht zur Erstellung des Gutes beigetragen haben. Die Spieltheorie, insbesondere das PD, verdeutlicht diese Rationalitätsfalle, bei der individuelle und kollektive Rationalität auseinanderfallen.
Das Gefangenendilemma unterstreicht die entscheidende Rolle von Vertrauen für das Gelingen kollektiven Handelns. Die Bereitschaft zur Kooperation (Streikteilnahme) hängt maßgeblich davon ab, ob man darauf vertraut, dass auch die anderen kooperieren werden. Fehlt dieses Vertrauen, steigt die Wahrscheinlichkeit der Defektion, da niemand der “Dumme” sein möchte, der allein die Kosten trägt. In wiederholten Interaktionen, wie sie in Arbeitsbeziehungen oft vorkommen, können sich kooperative Strategien wie “Tit for Tat” (wie du mir, so ich dir) entwickeln und Vertrauen fördern. Allerdings können bestehende Spaltungen, wie die zwischen Tech und Fachbereich, diesen Vertrauensaufbau untergraben.
Das Dilemma wird wahrscheinlich noch verstärkt, wenn die Entscheidung zur Kooperation nicht nur die eigene unmittelbare Peer-Group betrifft, sondern auch Mitglieder einer wahrgenommenen Fremdgruppe einschließt. Aus der Perspektive des Fachbereichs könnte das Risiko, dass die Mitglieder des Tech-Bereichs (die zahlreich teilgenommen haben) “defektieren” (also ihre Ziele nicht konsequent verfolgen oder der Streik scheitert), höher eingeschätzt werden. Gleichzeitig könnte die gefühlte Verpflichtung, für die Ziele einer als “anders” wahrgenommenen Gruppe Kosten auf sich zu nehmen, geringer sein. Dies verstärkt die individuelle Kalkulation zugunsten der Nicht-Teilnahme, selbst wenn das kollektive Ergebnis (höhere Löhne) prinzipiell erwünscht ist. Die Kosten des Streiks (Lohnausfall, Risiko) sind individuell, während der Nutzen kollektiv ist und möglicherweise als unverhältnismäßig der anderen Gruppe zugutekommend wahrgenommen wird.
Institutionen wie Gewerkschaften oder Betriebsräte spielen eine wichtige Rolle bei der Überwindung des Gefangenendilemmas. Sie können Kommunikation und Koordination ermöglichen (was im klassischen PD ausgeschlossen ist), Vertrauen durch wiederholte positive Erfahrungen und transparente Information schaffen und potenziell soziale Normen oder Sanktionen gegen Trittbrettfahren etablieren. Eine E-Mail des Betriebsrats im vorliegenden Fall war ein Versuch, durch Information und Appell kollektives Handeln zu fördern.
Es ist jedoch wichtig zu erkennen, dass das Gefangenendilemma primär auf rationalen Nutzenkalkulationen basiert. Die Entscheidung für oder gegen einen Streik ist aber auch stark von Emotionen wie Ärger über Ungerechtigkeit, Angst vor Konsequenzen oder dem Gefühl der Solidarität geprägt. Die Tatsache, dass ein guter Freund und Kollege trotz seiner Klagen über das Gehalt erst überredet werden musste und eine Kollegin die Arbeitsbelastung vorschob, deutet auf solche komplexeren, über die reine Kosten-Nutzen-Rechnung hinausgehenden Motive hin. Theorien wie die der relativen Deprivation (mit Fokus auf Ärger/Ressentiment ) und der sozialen Identität (mit Betonung der emotionalen Bedeutung von Gruppenzugehörigkeit ) sind daher notwendig, um das Bild zu vervollständigen. Die Mitglieder des Fachbereichs mögen nicht nur die rationale Logik des PD für die Nicht-Teilnahme sehen, sondern ihnen fehlt möglicherweise auch der motivierende Ärger oder die starke Gruppenidentifikation, die diese Logik bei den Mitgliedern des Tech-Bereichs überwinden könnte.
2.2 Die unausgesprochenen Botschaften: Watzlawicks Kommunikationsaxiome und die Bedeutung der (Nicht-)Teilnahme
Paul Watzlawick und seine Kollegen entwickelten einen pragmatischen Ansatz zur menschlichen Kommunikation, der auf fĂĽnf grundlegenden Axiomen basiert. Diese Axiome helfen zu verstehen, wie im Kontext eines Streiks sowohl Handlungen als auch Unterlassungen zu wirkungsvollen Botschaften werden.
**Axiom 1: “Man kann nicht nicht kommunizieren”
**Dieses wohl bekannteste Axiom besagt, dass jegliches Verhalten in einer zwischenmenschlichen Situation kommunikativen Charakter hat. Sobald sich zwei Menschen gegenseitig wahrnehmen, kommunizieren sie, auch durch Schweigen, Körpersprache oder eben durch Handlungen bzw. deren Unterlassung. Im Streikkontext bedeutet dies unweigerlich: Sowohl die Teilnahme am Streik als auch die Nicht-Teilnahme senden Botschaften.
- Teilnahme kommuniziert aktiv Unzufriedenheit, die Forderung nach Veränderung, Solidarität mit anderen Streikenden und die Bereitschaft, für die eigenen Ziele einzustehen und Macht auszuüben.
- Nicht-Teilnahme ist ebenfalls eine Kommunikation. Sie kann vielfältige Botschaften senden: Zufriedenheit mit den aktuellen Bedingungen, Angst vor negativen Konsequenzen, Ablehnung der Streikziele oder -methoden, Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber oder — aus Sicht der Streikenden — mangelnde Solidarität.
**Axiom 2: Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt
**Jede Äußerung oder Handlung transportiert nicht nur eine sachliche Information (Inhaltsaspekt), sondern definiert gleichzeitig auch die Beziehung zwischen den Kommunizierenden (Beziehungsaspekt). Oft bestimmt der Beziehungsaspekt, wie der Inhaltsaspekt verstanden wird, insbesondere in konflikthaften Situationen.
- _Inhaltsaspekt des Streiks:
_Die konkreten Forderungen (z.B. 8,4% Lohnerhöhung sofort, wie in der Betriebsrats-Mail argumentiert) und die faktische Arbeitsniederlegung bzw. Weiterarbeit. - _Beziehungsaspekt des Streiks:
_Die Teilnahme definiert die Beziehung zum Arbeitgeber als konflikthaft und fordernd, während sie die Beziehung zu den Mitstreikenden als solidarisch markiert. Die Nicht-Teilnahme kann die Beziehung zum Arbeitgeber als konform oder loyal definieren (aus Arbeitgebersicht) oder als ängstlich. Gegenüber den Streikenden definiert sie die Beziehung als nicht-solidarisch oder distanziert. Diese Beziehungsbotschaften können das Arbeitsklima nachhaltig prägen.
In Situationen, in denen kollektives Handeln wie bei einem Streikaufruf stark propagiert wird, erhält die Handlung der Nicht-Teilnahme eine besonders starke kommunikative Aufladung. Die Betriebsrats-Mail rahmt den Streik als notwendig und gerechtfertigt. Teilnahme kommuniziert hier Solidarität. Folglich ist Nicht-Teilnahme in diesem Kontext nicht neutral, sondern wird als aktive Kommunikation gegen die Botschaft der mobilisierenden Gruppe wahrgenommen. Der Beziehungsaspekt (Axiom 2) wird dadurch besonders relevant und von den Streikenden wahrscheinlich als aktive Unterminierung ihrer Bemühungen und als Bruch der Solidarität interpretiert. Dies kann zu tieferem Groll führen als bloße Abwesenheit aus anderen Gründen.
**Axiom 3: Kommunikation ist immer Ursache und Wirkung (Interpunktion)
**Kommunikation verläuft zirkulär, nicht linear. Die Teilnehmer strukturieren den Ablauf jedoch subjektiv, indem sie bestimmte Ereignisse als Ursache und andere als Wirkung interpretieren (“interpunktieren”). Dies führt oft zu unterschiedlichen Sichtweisen auf denselben Kommunikationsprozess. Beispiele im Streikkontext: “Ich streike, weil das Angebot schlecht ist” vs. “Das Angebot ist schlecht, weil die Forderungen unrealistisch sind”. Oder auf der Ebene der Arbeitnehmer: “Ich streike nicht, weil die anderen (vom Fachbereich) es auch nicht tun” vs. “Die anderen streiken nicht, weil Leute wie ich nicht mitmachen”. Diese unterschiedlichen Interpunktionen können Konflikte aufrechterhalten.
Die stark unterschiedliche Streikbeteiligung legt nahe, dass eine Kommunikationsstörung zwischen dem Tech- und dem Fachbereich bezüglich der Notwendigkeit oder Legitimität des Streiks vorliegt. Dies könnte auf unterschiedlichen Interpretationen (Interpunktionen gemäß Axiom 3) der Situation beruhen. Während der Tech-Bereich (mit seiner geringen Zufriedenheit) das Angebot als inakzeptable Provokation interpunktiert, die den Streik zwingend notwendig macht, könnte der Fachbereich (mit seiner hohen Zufriedenheit) die Sequenz anders interpunktieren: Die allgemeinen Bedingungen sind gut, das Angebot ist zwar nicht ideal, aber ein Streik wäre eine überzogene Reaktion mit zu hohen Risiken. Diese unterschiedlichen Interpretationen, die wahrscheinlich nicht offen zwischen den Gruppen kommuniziert wurden, tragen zur Verhaltensdivergenz bei.
**Axiom 4: Menschliche Kommunikation bedient sich analoger und digitaler Modalitäten
**Digitale Kommunikation bezieht sich auf den Inhalt, die Worte (z.B. die Forderungen im Streikaufruf). Analoge Kommunikation umfasst alles Nonverbale: Tonfall, Mimik, Gestik, aber auch den Kontext und eben Handlungen oder Unterlassungen. Das Streiken (Handlung) und das Nicht-Streiken (Unterlassung) sind mächtige analoge Kommunikationsformen. Widersprüche zwischen digitaler Kommunikation (z.B. Klagen über zu wenig Gehalt) und analoger Kommunikation (Nicht-Teilnahme am Streik) erzeugen Spannung und wirken unglaubwürdig.
**Axiom 5: Kommunikation ist symmetrisch oder komplementär
**Interaktionen können auf Gleichheit (symmetrisch) oder auf Unterschieden/Hierarchie (komplementär) basieren. Ein Streik ist oft der Versuch, eine als komplementär empfundene Beziehung (Macht des Arbeitgebers) in Richtung einer symmetrischeren Beziehung (Verhandlung auf Augenhöhe) zu verschieben. Die Nicht-Teilnahme am Streik kann hingegen die bestehende komplementäre Beziehung verstärken, indem sie die Machtposition des Arbeitgebers nicht herausfordert.
Zusammenfassend zeigt Watzlawicks Modell, dass im Streikkontext jede Handlung — und jede Unterlassung — eine Botschaft sendet, die sowohl Inhalts- als auch Beziehungsaspekte hat und die Dynamik zwischen Arbeitgeber, Streikenden und Nicht-Streikenden maßgeblich beeinflusst.
2.3 Soziale Identität und Intergruppendynamik: Wie Gruppenzugehörigkeit (Tech vs. Fachbereich) das Verhalten formt
Die Theorie der sozialen Identität (Social Identity Theory, SIT), entwickelt von Henri Tajfel und John Turner, bietet einen wichtigen Erklärungsansatz für das Verhalten von Individuen in Gruppenkontexten. Sie geht davon aus, dass ein Teil unseres Selbstkonzepts — unsere soziale Identität — aus der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen abgeleitet wird. Menschen streben danach, eine positive soziale Identität zu erlangen und aufrechtzuerhalten.
Die Kernkonzepte der SIT sind:
- **Soziale Kategorisierung
**Wir teilen die soziale Welt in Kategorien ein und ordnen uns selbst und andere diesen Kategorien zu. Dies führt zur Unterscheidung zwischen Eigengruppen (Ingroups), denen wir uns zugehörig fühlen, und Fremdgruppen (Outgroups). Im vorliegenden Fall sind “Tech” und “Fachbereich” die relevanten sozialen Kategorien. - **Soziale Identifikation
**Wir identifizieren uns mit den Gruppen, denen wir angehören. Diese Identifikation beinhaltet kognitive Aspekte (das Wissen um die Mitgliedschaft), evaluative Aspekte (die Bewertung der Gruppe) und emotionale Aspekte (die emotionale Bedeutung der Mitgliedschaft). - **Sozialer Vergleich
**Wir bewerten unsere Eigengruppe, indem wir sie mit relevanten Fremdgruppen vergleichen. - **Positive Distinktheit
**Wir haben das Bedürfnis, dass sich unsere Eigengruppe positiv von anderen Gruppen unterscheidet. Erfolgreiche positive Vergleiche steigern unsere soziale Identität und unser Selbstwertgefühl.
Angewendet auf die Streiksituation im agilen Tribe bedeutet dies:
- Die Zugehörigkeit zum Tech- bzw. Fachbereich wird durch den Konflikt um den Streik wahrscheinlich hochgradig salient. Die Mitarbeiter handeln und nehmen die Situation weniger als Individuen oder Mitglieder des agilen Tribes wahr, sondern primär als Mitglieder ihrer jeweiligen Abteilung/Tochtergesellschaft.
- Es kommt zu Eigengruppenfavorisierung (Ingroup Bias) und potenziell zur Abwertung der Fremdgruppe (Outgroup Derogation). Die Tech-Mitarbeiter könnten die Nicht-Teilnahme des Fachbereichs als unsolidarisch oder feige abwerten. Umgekehrt könnte der Fachbereich den Streik der Tech-Kollegen als überzogen, störend oder schädlich für das gemeinsame Projekt ansehen. Das Verhalten wird primär durch die Gruppenzugehörigkeit bestimmt.
- Die unterschiedlichen Zufriedenheitsniveaus spielen eine entscheidende Rolle für die Dynamik der sozialen Identität. Die geringe Zufriedenheit im Tech-Bereich stellt eine Bedrohung für eine positive soziale Identität dar. Sie signalisiert, dass die Gruppe im Vergleich (möglicherweise zum Fachbereich oder zu externen Standards) schlechtergestellt ist. Dies motiviert zu sozialem Wettbewerb — der Streik kann als Versuch gesehen werden, den Status und die Bedingungen der Eigengruppe kollektiv zu verbessern und positive Distinktheit herzustellen. Der Fachbereich hingegen erlebt durch seine hohe Zufriedenheit keine solche Bedrohung der sozialen Identität. Es besteht daher weniger Motivation für kollektiven Protest. Stattdessen könnte sogar der Wunsch bestehen, den eigenen positiven Status durch Abgrenzung von der unzufriedenen, streikenden Gruppe zu erhalten.
- Die agile Struktur, die eigentlich auf cross-funktionale Zusammenarbeit abzielt, scheint in dieser Hochkonfliktsituation von den tieferliegenden Abteilungs- bzw. Tochtergesellschaftsidentitäten überlagert zu werden. Der Streik, der Kernbedingungen der Anstellung betrifft, die sich historisch oder strukturell zwischen Tech und Fachbereich unterscheiden könnten, macht diese älteren, möglicherweise stärker verankerten Identitäten salienter als die Zugehörigkeit zum gemeinsamen agilen Team. Der Konflikt offenbart somit, dass die organisatorischen oder professionellen Identitäten in dieser Situation stärkere Verhaltenstreiber sind als die übergestülpte agile Teamstruktur.
Das Elaborated Social Identity Model (ESIM), obwohl primär auf Massenverhalten und Interaktionen mit externen Autoritäten wie der Polizei fokussiert, bietet relevante Einsichten. Es beschreibt, wie sich durch die Wahrnehmung illegitimen Verhaltens einer Fremdgruppe (hier potenziell der Arbeitgeber durch das inakzeptable Angebot, oder sogar die nicht-streikende Gruppe durch ihre wahrgenommene Unsolidarität) die Eigengruppenidentität verändern und Solidarität innerhalb der Gruppe verstärken kann. Die hohe Streikbeteiligung im Tech-Bereich könnte Ausdruck einer solchen gestärkten, geeinten Identität sein, die sich im Angesicht wahrgenommener Ungerechtigkeit formiert hat.
2.4 Wahrgenommene Ungerechtigkeit und Motivation: Relative Deprivation und Fairness-Theorien
Neben Identitätsdynamiken spielen auch subjektive Wahrnehmungen von Ungerechtigkeit eine zentrale Rolle bei der Motivation zu kollektivem Handeln wie Streiks.
**Theorie der Relativen Deprivation (Relative Deprivation Theory, RDT)
**Diese Theorie besagt, dass nicht die absolute Armut oder Benachteiligung entscheidend für Unzufriedenheit und Protest ist, sondern das subjektive Gefühl, ungerechtfertigt schlechtergestellt zu sein als eine relevante Vergleichsgruppe (andere Personen, andere Gruppen, die eigene Situation in der Vergangenheit oder erwartete Zukunft). Dieses Gefühl der relativen Deprivation ist oft mit Ärger und Ressentiments verbunden und gilt als wichtiger Motor für sozialen Wandel und Protest.
- Runciman unterschied zwischen egoistischer relativer Deprivation (IRD), bei der sich ein Individuum im Vergleich zu anderen Individuen benachteiligt fühlt, und fraternaler oder kollektiver relativer Deprivation (KRD/GRD), bei der sich Individuen als Mitglieder einer Gruppe im Vergleich zu anderen Gruppen als benachteiligt wahrnehmen. Insbesondere KRD ist ein starker Prädiktor für kollektives Handeln wie Proteste und Streiks.
- Anwendung: Die Tech-Mitarbeiter, trotz möglicherweise formal ähnlicher Gehaltsstrukturen, könnten aufgrund ihrer geringen Zufriedenheit und im Vergleich zur wahrgenommenen besseren Situation im Fachbereich (oder externen Benchmarks) eine hohe kollektive relative Deprivation empfinden. Dies würde ihren Ärger und ihre hohe Streikbereitschaft erklären. Der Fachbereich hingegen, mit seiner hohen Zufriedenheit, empfindet vermutlich eine geringere KRD und hat daher weniger Motivation zum Streik. Mein Kollege, der zwar über sein Gehalt klagt (egoistische RD), aber zögert zu streiken, empfindet möglicherweise keine starke kollektive Deprivation oder identifiziert sich nicht ausreichend mit der streikenden Gruppe.
Es ist plausibel, dass Tech- und Fachbereichsmitarbeiter unterschiedliche Vergleichsgruppen heranziehen. Der Tech-Bereich vergleicht sich möglicherweise stärker mit externen Standards der IT-Branche oder sieht den eigenen Beitrag im Vergleich zum Fachbereich als unterbewertet an. Der Fachbereich hingegen könnte interne Vergleiche anstellen, sich an historischen Normen orientieren oder sich im Vergleich zu ihrem externen Markt als adäquat entlohnt betrachten. Diese unterschiedlichen Referenzpunkte führen zu unterschiedlichen Niveaus wahrgenommener relativer Deprivation (KRD) und beeinflussen direkt die Streikmotivation.
**Theorien organisationaler Gerechtigkeit
**Diese Theorien untersuchen, wie Mitarbeiter die Fairness von Behandlung und Entscheidungen in Organisationen wahrnehmen.
- **Distributive Gerechtigkeit
**Bezieht sich auf die wahrgenommene Fairness der Ergebnisse oder der Verteilung von Ressourcen (z.B. Gehalt, Boni, Arbeitslast). Die Betriebsrats-Mail argumentiert klar auf dieser Ebene: Das Angebot sei distributiv ungerecht. Ungerecht empfundene Ergebnisse können negative Reaktionen wie Protest oder Vergeltung auslösen. - **Prozedurale Gerechtigkeit
**Bezieht sich auf die wahrgenommene Fairness der Prozesse und Verfahren, die zu den Ergebnissen führen (z.B. Transparenz, Konsistenz, Möglichkeit zur Einflussnahme/Partizipation). Faire Prozeduren können die Akzeptanz auch ungünstiger Ergebnisse erhöhen. Umgekehrt verstärken unfaire Prozeduren die negative Reaktion auf unfaire Ergebnisse. - **Interaktionale Gerechtigkeit
**Bezieht sich auf die wahrgenommene Fairness der interpersonellen Behandlung während der Anwendung von Prozeduren (z.B. Respekt, Würde, Angemessenheit von Erklärungen). Mangelnder Respekt oder unzureichende Begründungen können das Gefühl der Ungerechtigkeit verstärken.
Diese Gerechtigkeitsdimensionen interagieren: Die stärksten negativen Reaktionen (wie Streikbereitschaft) sind zu erwarten, wenn Mitarbeiter sowohl die Ergebnisse (distributiv) als auch die Prozesse (prozedural) und die Behandlung (interaktional) als unfair empfinden.
Während der aktuelle Streik durch die distributive Ungerechtigkeit des Gehaltsangebots ausgelöst wurde, legt die bereits bestehende Kluft in der Arbeitszufriedenheit nahe, dass möglicherweise auch unterschiedliche Wahrnehmungen prozeduraler oder interaktionaler Gerechtigkeit zwischen Tech und Fachbereich bestehen. Die geringe Zufriedenheit im Tech-Bereich könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass sich die Mitarbeiter dort in Bezug auf Prozesse (z.B. Projektzuweisungen, Leistungsbeurteilungen) oder im täglichen Umgang (z.B. Wertschätzung durch Vorgesetzte oder Kollegen) ungerechter behandelt fühlen als ihre Kollegen im Fachbereich. Gemäß den Interaktionseffekten der Gerechtigkeitstheorien würde dieses bereits vorhandene Gefühl der prozeduralen oder interaktionalen Ungerechtigkeit die Tech-Mitarbeiter sensibler für die wahrgenommene distributive Ungerechtigkeit des Gehaltsangebots machen und ihre Reaktion (Streik) verstärken.
Die Mobilisierungstheorie von Kelly/Klandermans integriert diese Aspekte. Erfolgreiche Mobilisierung erfordert demnach drei kollektive Ăśberzeugungen:
- Ein GefĂĽhl kollektiver Ungerechtigkeit (die Betriebsrats-Mail versucht, dies zu etablieren)
- Die Zuschreibung der Verantwortung an einen Akteur (hier der Arbeitgeber)
- Die Wahrnehmung kollektiver Handlungsfähigkeit (der Glaube, dass der Streik etwas bewirken kann).
Die unterschiedliche Streikbeteiligung deutet darauf hin, dass mindestens eine dieser Überzeugungen — wahrscheinlich das Ausmaß des Ungerechtigkeitsempfindens und/oder die wahrgenommene Handlungsfähigkeit bzw. Notwendigkeit des Streiks — zwischen Tech und Fachbereich unterschiedlich ausgeprägt ist.
3. Fallanalyse: Der Streik im agilen Tribe
3.1 Kontextfaktoren: Der Nährboden für Spaltung
Die beobachtete Spaltung bei der Streikbeteiligung entstand nicht im luftleeren Raum, sondern wurzelt in spezifischen Kontextfaktoren des agilen Tribes.
- **Organisationsstruktur
**Die Struktur mit einer Muttergesellschaft und separaten Tochterunternehmen für den Tech- und den Fachbereich schafft bereits eine formale Trennlinie. Auch wenn die Mitarbeiter in agilen Tribes zusammenarbeiten, können unterschiedliche Zugehörigkeiten zu Tochtergesellschaften mit abweichenden Verträgen, Gehaltsbändern, Führungskulturen oder historischen Entwicklungen verbunden sein, die eine gemeinsame Identifikation erschweren. - **Agiles Kollaborationsmodell
**Die Zusammenarbeit in agilen Teams und Tribes erfordert per Definition ein hohes Maß an Interaktion, Kommunikation und vor Allem Vertrauen über funktionale Grenzen hinweg. Gleichzeitig birgt dieses Modell potenzielle Reibungsflächen, etwa durch unterschiedliche Prioritäten zwischen Business und IT, Kommunikationsbarrieren aufgrund unterschiedlicher Fachsprachen, unklare Rollenverteilungen oder Konflikte um knappe (Entwicklungs-)Ressourcen. - **Disparate Mitarbeiterzufriedenheit
**Der markanteste Faktor ist die konstant hohe Zufriedenheit im Fachbereich gegenüber der konstant niedrigen Zufriedenheit im Tech-Bereich. Die Ursachen hierfür können vielfältig sein: Unterschiede in der Führungsqualität, der Arbeitsbelastung, den Entwicklungsperspektiven, der wahrgenommenen Wertschätzung, den Arbeitsinhalten oder den zur Verfügung stehenden Ressourcen. Technologierollen sind oft durch hohen Druck, komplexe Problemlösungen und sich schnell ändernde Anforderungen gekennzeichnet, was die Zufriedenheit beeinflussen kann, insbesondere wenn Ressourcen wie Zeit oder Autonomie knapp sind. Fachbereichsrollen mögen andere Zufriedenheitsfaktoren bieten, z.B. direkten Kundenkontakt oder die Anwendung tiefgreifender Fachexpertise. Diese Kluft in der Grundzufriedenheit bildet einen zentralen Hintergrund für die unterschiedliche Reaktion auf den Streikaufruf. - **Potenzieller Kulturkonflikt
**Trotz des agilen Überbaus können unterschwellige kulturelle Unterschiede zwischen einer typischen “Tech-Kultur” (möglicherweise fokussiert auf technische Exzellenz, schnelle Iteration, spezifische Kommunikationsnormen) und einer “Fachbereichs-Kultur” (möglicherweise stärker an Geschäftsprozessen, Stabilität, Kundenbedürfnissen orientiert) fortbestehen. Agile Transformationen stoßen oft auf kulturellen Widerstand oder führen zu neuen Formen der Bürokratie, wenn die zugrundeliegende Kultur nicht angepasst wird.
Die enge Zusammenarbeit, die das agile Modell erfordert, könnte die zugrundeliegenden Spannungen und Unterschiede zwischen Tech und Fachbereich sogar verstärken, anstatt sie aufzulösen. Gerade wenn externer Druck wie ein unbefriedigendes Gehaltsangebot hinzukommt, werden diese Differenzen sichtbar. In der engen Arbeitsumgebung agiler Teams sind divergierende Verhaltensweisen — wie Streiken versus Nicht-Streiken — unmittelbar sichtbar und wirken sich direkt auf die täglichen Arbeitsbeziehungen aus. Dies unterscheidet die Situation von traditionelleren, stärker siloartigen Strukturen, wo solche Differenzen weniger direkte Auswirkungen auf die unmittelbare Zusammenarbeit haben mögen. Das agile Setup wirkt hier wie ein Brennglas, das die sozialen Folgen der unterschiedlichen Streikbeteiligung intensiviert.
3.2 Das Streikereignis: Mobilisierung und individuelle Entscheidungen
Die konkrete Streiksituation wurde maßgeblich durch die Kommunikation des Betriebsrats und die daraus resultierenden individuellen Entscheidungen der Mitarbeiter geprägt.
**Analyse der Betriebsrats-Kommunikation:
**Die E-Mail des Betriebsrats verfolgt klare kommunikative Ziele:
- **Rahmung des Angebots als unfair
**Das Arbeitgeberangebot (8,4% über drei Jahre) wird explizit als unzureichend dargestellt. Es wird argumentiert, dass dies kaum den Reallohnverlust ausgleiche und das Inflationsrisiko auf die Beschäftigten abwälze. Diese Argumentation zielt darauf ab, ein gemeinsames Gefühl der distributiven Ungerechtigkeit zu erzeugen und die Notwendigkeit einer Reaktion zu untermauern. - **Mobilisierung zum Streik
**Es erfolgt ein klarer Aufruf zur Teilnahme am Warnstreik (“wir streiken am Mittwoch!”). Um die Teilnahmehürden zu senken und kollektive Handlungsfähigkeit zu signalisieren, werden detaillierte logistische Informationen (Treffpunkt, Uhrzeit, Ablauf, Verpflegung) bereitgestellt. - **Reduzierung wahrgenommener Risiken
**Rechtliche Bedenken bezĂĽglich des Streikrechts werden proaktiv adressiert, insbesondere die unterschiedlichen Regelungen fĂĽr verschiedene Gesellschaften (Fachbereich vs. Tech) und die Bedeutung des Manteltarifvertrags (MTV)-Bezugs im Arbeitsvertrag. Die Anleitung, nicht auszustempeln, soll die offizielle Streikbeteiligung maximieren und dem Arbeitgeber die Erfassung erschweren, was ebenfalls das individuelle Risiko (direkte Registrierung) minimieren soll. - **Implizite Annahmen und LĂĽcken
**Die Kommunikation geht von einem geteilten Verständnis der ökonomischen Argumente und einem einheitlichen Interesse über beide Bereiche/Tochtergesellschaften hinweg aus. Sie ignoriert jedoch die bekannte Diskrepanz in der Mitarbeiterzufriedenheit und mögliche unterschiedliche Prioritäten oder Risikobewertungen zwischen Tech und Fachbereich.
Diese Kommunikationsstrategie, obwohl stark in ihrer ökonomischen Argumentation und rechtlichen Absicherung, könnte eine Kommunikationslücke aufweisen. Indem sie die unterschiedlichen Ausgangslagen (insbesondere die Zufriedenheit) nicht adressiert, läuft sie Gefahr, bei der zufriedeneren Fachbereichsgruppe weniger Resonanz zu finden. Der universelle ökonomische Rahmen mag für die unzufriedene Tech-Gruppe hoch relevant sein, aber für den Fachbereich, der möglicherweise die Situation weniger als ungerecht empfindet oder andere Prioritäten setzt, fehlt möglicherweise der Anknüpfungspunkt. Die Kommunikation könnte so unbeabsichtigt den Eindruck verstärken, der Streik sei primär ein Anliegen des Tech-Bereichs.
**Beobachtete Beteiligung und individuelle Faktoren
**Das Ergebnis war eine massive Diskrepanz: sehr hohe Beteiligung aus dem Tech-Bereich, aber nur eine einzige Person aus dem Fachbereich. Dies bestätigt, dass die Mobilisierungsbotschaft bei den beiden Gruppen sehr unterschiedlich ankam. Die Beispiele aus meiner direkten Umgebung illustrieren die Komplexität individueller Entscheidungen:
- Mein Freund und Kollege, der über sein Gehalt klagt, aber Überredung braucht, zeigt, dass Unzufriedenheit allein nicht ausreicht. Seine Zögerlichkeit könnte auf einer individuellen Kosten-Nutzen-Abwägung beruhen (hohe wahrgenommene Risiken/Kosten des Streiks vs. unsicherer Nutzen), auf geringem Vertrauen in den Erfolg des Streiks (geringe wahrgenommene kollektive Effektivität), mangelnder Identifikation mit der streikenden Gruppe oder einer generellen Risikoaversion.
- Eine Kollegin, die “wichtige Sachen zu erledigen” hat, nutzt eine gängige Rationalisierung. Ob dies der wahre Grund ist oder vorgeschoben, um Angst, Ablehnung oder andere Motive zu verdecken, ist unklar. Aus Watzlawicks Sicht kommuniziert ihr Verhalten (Nicht-Streiken) unabhängig von der Begründung. Die Ironie, dass Streiks gerade dann wirksam sind, wenn wichtige Arbeit liegen bleibt, unterstreicht die potenzielle Rationalisierung.
Generell beeinflussen verschiedene Faktoren die individuelle Streikentscheidung, darunter die Abwägung von Kosten und Nutzen (Lohnausfall vs. potenzielle Gewinne), die Stärke der Identifikation mit der Gewerkschaft/den Streikenden und das Gefühl der Solidarität, die Überzeugung, dass der Streik erfolgreich sein kann (Effektivität), das Ausmaß der empfundenen Ungerechtigkeit, sozialer Druck oder Normen sowie individuelle Umstände wie finanzielle Lage, Jobsicherheit oder Arbeitsbelastung.
4. Synthese von Theorie und Fall: Erklärung der Spaltung zwischen Tech und Fachbereich
Die beobachtete Spaltung bei der Streikbeteiligung lässt sich durch eine Synthese der vorgestellten theoretischen Perspektiven erklären:
**Gefangenendilemma (PD)
**Die geringe Beteiligung des Fachbereichs erscheint als rationales Verhalten im Sinne des PD. Angesichts ihrer höheren Grundzufriedenheit ist der subjektiv wahrgenommene Nettonutzen des Streiks (potenzieller Gewinn minus sichere Kosten/Risiken) für sie wahrscheinlich geringer als für den Tech-Bereich. Wenn zusätzlich das Vertrauen in die Kooperation der anderen Gruppe (Tech) geringer ist oder die Verpflichtung zur Kooperation als schwächer empfunden wird (da es sich um eine “andere” Gruppe handelt), wird die Strategie der Defektion (Nicht-Teilnahme, Trittbrettfahren) für viele im Fachbereich dominant — selbst für jene, die mit dem Gehalt unzufrieden sind. Die hohe Beteiligung im Tech-Bereich deutet darauf hin, dass diese Gruppe das Dilemma überwinden konnte, wahrscheinlich aufgrund eines stärkeren gemeinsamen Leidensdrucks (geringe Zufriedenheit), einer höheren Bewertung des potenziellen Gewinns, stärkerer Identifikation innerhalb der Tech-Gruppe und möglicherweise größerem Vertrauen untereinander.
**Watzlawicks Axiome
**Die Handlungen senden klare analoge Botschaften. Der Tech-Bereich kommuniziert: “Wir sind unzufrieden, geeint und fordern Wandel.” Der Fachbereich kommuniziert durch seine Nicht-Teilnahme: “Das ist nicht unsere Priorität”, “Wir sind (relativ) zufrieden” oder “Wir scheuen die Risiken/sind nicht solidarisch”. Der Widerspruch zwischen verbalen Klagen über Gehalt (digital) und der analogen Handlung des Nicht-Streikens bei Einzelnen (wie meinem Freund und Kollegen) unterstreicht Kommunikationsinkonsistenzen. Vor allem aber erzeugt das unterschiedliche Verhalten eine stark negative Beziehungsbotschaft zwischen den Gruppen, wobei die Nicht-Teilnahme im Kontext des Streikaufrufs als besonders deutliches Signal der Distanzierung und potenziellen Unterminierung wahrgenommen wird.
**Theorie der sozialen Identität (SIT)
**In der Streiksituation agieren Tech und Fachbereich als distinkte Eigengruppen.
Die geringe Zufriedenheit des Tech-Bereichs bedroht dessen positive soziale Identität und motiviert zum sozialen Wettbewerb (Streik), um den Gruppenstatus zu verbessern.
Die hohe Zufriedenheit des Fachbereichs führt zu geringerer Motivation für kollektiven Protest und möglicherweise zum Wunsch, sich durch Nicht-Teilnahme von der “unzufriedenen” Gruppe positiv abzugrenzen. Der Streik wird so zu einer Arena für Intergruppendynamiken, die über den reinen Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Konflikt hinausgehen. Die agile Struktur wird von diesen tieferliegenden Identitäten überlagert.
**Relative Deprivation (RDT) & Gerechtigkeitstheorien
**Der Tech-Bereich erlebt wahrscheinlich eine höhere kollektive relative Deprivation (KRD) als der Fachbereich, möglicherweise aufgrund unterschiedlicher Vergleichsmaßstäbe. Die geringe Zufriedenheit könnte zudem auf einer generellen Wahrnehmung prozeduraler oder interaktionaler Ungerechtigkeit beruhen, was die Sensibilität für die distributive Ungerechtigkeit des Gehaltsangebots erhöht. Der Fachbereich erlebt weniger KRD und nimmt die Gesamtsituation vermutlich als gerechter wahr, was die Schwelle für kollektiven Protest erhöht. Die alleinige Fokussierung des Betriebsrats auf distributive Ungerechtigkeit (Gehalt) mobilisiert möglicherweise nur diejenigen, die sich bereits aus anderen Gründen benachteiligt fühlen.
5. Konsequenzen der Spaltung: Auswirkungen auf Vertrauen, Zusammenhalt und Zusammenarbeit
Die ungleiche Streikbeteiligung und die damit verbundene Spaltung zwischen dem Tech- und dem Fachbereich haben potenziell weitreichende negative Konsequenzen, insbesondere fĂĽr das Funktionieren des agilen Tribes.
**Erosion von Vertrauen und Teamgeist
**Das sichtbar unterschiedliche Verhalten im Streik, insbesondere die Wahrnehmung von Nicht-Teilnahme als “Trittbrettfahren” oder Mangel an Solidarität, beschädigt das grundlegende Vertrauen zwischen den Kollegen innerhalb der agilen Teams. In agilen Umgebungen, die stark auf psychologische Sicherheit, offene Kommunikation und gegenseitige Verlässlichkeit angewiesen sind, ist dieser Vertrauensverlust besonders kritisch. Groll und Misstrauen können lange über das Streikende hinaus bestehen bleiben und die Atmosphäre vergiften.
**Schwächung des Teamzusammenhalts
**Der Streik hat wahrscheinlich die Trennlinie zwischen Tech und Fachbereich verstärkt und könnte zur Bildung von Subgruppen oder Cliquen innerhalb der agilen Teams geführt haben, die sich entlang der Streikbeteiligung formieren. Dies untergräbt die für agile Methoden zentrale “Ein-Team”-Mentalität. Informelle Interaktionen, soziale Events oder der alltägliche Umgangston können darunter leiden.
**Behinderung der agilen Zusammenarbeit
**Beschädigtes Vertrauen und geschwächter Zusammenhalt wirken sich direkt negativ auf die tägliche Zusammenarbeit aus. Agile Teams sind aufgrund ihrer hohen Interdependenz und ihres Bedarfs an ständigem Austausch und Vertrauen besonders anfällig für die Folgen solcher Spaltungen. Der Schaden betrifft nicht nur die Moral, sondern die Kernfunktionalität des agilen Modells. Dies kann sich äußern in:
- Einer reduzierten Bereitschaft, Wissen zu teilen, Hilfe anzubieten oder ĂĽber die eigene unmittelbare Aufgabe hinaus zu kooperieren, insbesondere ĂĽber die Tech-/Fachbereichsgrenze hinweg.
- Einer Verlagerung hin zu formellerer, vorsichtigerer Kommunikation, was den offenen und ehrlichen Dialog behindert, der für agile Prozesse wie Retrospektiven oder gemeinsames Problemlösen notwendig ist.
- Zunehmenden Missverständnissen und Schwierigkeiten, aufgabenbezogene Konflikte konstruktiv zu lösen, da Misstrauen und negative Zuschreibungen die Interaktion färben.
- Dem Potenzial fĂĽr passiven Widerstand, Schuldzuweisungen oder subtile Behinderung bei funktionsĂĽbergreifenden Aufgaben.
- Letztlich kann dies zu verringerter Produktivität, geringerer Qualität der Arbeitsergebnisse und dem Verfehlen von Sprint-Zielen führen.
**Negatives Arbeitsklima
**Eine gespaltene Belegschaft führt oft zu einem generell negativen oder sogar toxischen Arbeitsklima, das von Spannungen, Gerüchten, mangelndem Respekt und sozialem Stress geprägt ist. Dies kann die allgemeine Arbeitsmoral und Zufriedenheit senken und über Zeit möglicherweise auch die zuvor zufriedenen Mitglieder des Fachbereichs beeinträchtigen. Erhöhter Stress kann zudem zu gesundheitlichen Problemen und Burnout führen.
- **Erhöhte Mitarbeiterfluktuation
**Konfliktreiche Arbeitsumgebungen mit geringem Vertrauen sind bekannte Treiber für Kündigungen. Die Spaltung könnte zu Abgängen führen, insbesondere aus der ohnehin unzufriedenen Tech-Gruppe, aber potenziell auch aus dem Fachbereich, wenn sich Mitarbeiter mit dem vergifteten Klima unwohl fühlen. - **Geschwächte zukünftige Verhandlungsposition
**Interne Spaltungen schwächen die kollektive Verhandlungsmacht der gesamten Belegschaft gegenüber dem Arbeitgeber in zukünftigen Tarifrunden oder bei betrieblichen Auseinandersetzungen. Arbeitgeber könnten versuchen, diese Spaltung auszunutzen, z.B. durch separate Angebote oder indem sie auf die mangelnde Einigkeit verweisen (Strategien des “Union Busting”). Die Fähigkeit des Betriebsrats, die Interessen aller Beschäftigten im Tribe effektiv zu vertreten, wird dadurch kompromittiert.
Sollten die zugrundeliegenden Probleme — insbesondere die Zufriedenheitskluft, die wahrgenommenen Ungerechtigkeiten und das beschädigte Vertrauen — nicht adressiert werden, ist es wahrscheinlich, dass zukünftige Konflikte auftreten. Diese könnten über reine Streikaktionen hinausgehen und sich in anderen Formen dysfunktionalen Verhaltens äußern, wie z.B. einer Zunahme von Beschwerden, reduziertem Engagement oder offener Feindseligkeit. Da das Vertrauen bereits beschädigt und negative Wahrnehmungen verfestigt sind, könnten zukünftige Konflikte noch schwerwiegender ausfallen.
6. Schlussfolgerung und Implikationen
Die Analyse der unterschiedlichen Streikbeteiligung im agilen Tribe zeigt, wie ein kollektives Instrument zur Interessensdurchsetzung paradoxerweise zu einer tiefen Spaltung innerhalb der Belegschaft führen kann. Die Anwendung etablierter sozialwissenschaftlicher Theorien liefert ein mehrschichtiges Erklärungsmodell für die Divergenz zwischen dem Tech- und dem Fachbereich:
- Das Gefangenendilemma verdeutlicht, wie individuelle Kosten-Nutzen-Abwägungen und mangelndes Vertrauen über Gruppengrenzen hinweg zur Nicht-Teilnahme (Trittbrettfahren) führen können, insbesondere wenn die wahrgenommenen Vorteile des Streiks (wie im zufriedeneren Fachbereich) geringer erscheinen.
- Watzlawicks Kommunikationstheorie hebt hervor, dass sowohl Teilnahme als auch Nicht-Teilnahme starke Botschaften senden, die insbesondere die Beziehungen zwischen den Gruppen belasten. Die Nicht-Teilnahme wird im Kontext des Streikaufrufs als negatives Beziehungssignal (Mangel an Solidarität) interpretiert.
- Die Theorie der sozialen Identität erklärt, wie die unterschiedliche Zufriedenheit die Identifikation mit der Eigengruppe (Tech vs. Fachbereich) beeinflusst und zu unterschiedlichen Strategien im Umgang mit dem Arbeitgeber führt (sozialer Wettbewerb vs. Abgrenzung/Status Quo). Die zugrundeliegenden Abteilungsidentitäten erwiesen sich als stärker als die angestrebte agile Teamidentität.
- Die Theorie der relativen Deprivation und Gerechtigkeitstheorien weisen darauf hin, dass unterschiedliche Vergleichsmaßstäbe und Wahrnehmungen von Fairness (nicht nur distributiv bzgl. Gehalt, sondern potenziell auch prozedural und interaktional) die Motivation zur Teilnahme am Streik maßgeblich beeinflussen.
Die Konsequenzen dieser Spaltung sind gravierend, insbesondere für die auf Vertrauen und enger Kollaboration basierende agile Arbeitsweise. Die Erosion von Vertrauen, die Schwächung des Teamzusammenhalts und die daraus resultierenden Kommunikations- und Kooperationsprobleme bedrohen die Effektivität des Tribes direkt. Ein negatives Arbeitsklima, erhöhte Fluktuation und eine geschwächte Position in zukünftigen Verhandlungen sind weitere wahrscheinliche Folgen. Das agile Modell erweist sich hier als besonders vulnerabel gegenüber solchen internen Brüchen.
Um dieser negativen Dynamik entgegenzuwirken und die Funktionsfähigkeit des Tribes wiederherzustellen, sind proaktive Schritte erforderlich:
**Anerkennung und Diagnose
**Führungskräfte und Betriebsrat müssen die Spaltung und ihre potenziellen Folgen anerkennen. Eine tiefere Analyse der Ursachen für die Zufriedenheitskluft im Tech-Bereich ist unerlässlich — geht es nur um Gehalt oder auch um Arbeitsbelastung, Führung, Ressourcen, Wertschätzung oder faire Prozesse?
**Intergruppendialog
**Ein moderierter Dialog zwischen Vertretern des Tech- und Fachbereichs, abseits des unmittelbaren Verhandlungsdrucks, könnte helfen, gegenseitiges Verständnis zu fördern, Perspektiven auszutauschen und Vertrauen langsam wieder aufzubauen. Der Fokus sollte auf gemeinsamen Zielen innerhalb des agilen Rahmens liegen.
**Adressierung von Fairness-Defiziten
**Basierend auf der Diagnose sollten konkrete MaĂźnahmen ergriffen werden, um wahrgenommene Ungerechtigkeiten (distributiv, prozedural, interaktional) anzugehen.
**Stärkung der gemeinsamen Identität
**Es bedarf bewusster Anstrengungen, die gemeinsame Identität als agiler Tribe zu stärken, z.B. durch gemeinsame Erfolge, Teamentwicklungsmaßnahmen und die Betonung übergeordneter Ziele, um die Trennlinien zwischen den Tochtergesellschaften/Abteilungen weniger relevant zu machen.
**Angepasste Betriebsratsstrategie
**Zukünftige Kommunikations- und Mobilisierungsstrategien des Betriebsrats sollten die Heterogenität der Belegschaft berücksichtigen und versuchen, Botschaften zu formulieren, die auch bei Gruppen mit unterschiedlichen Ausgangslagen und Perspektiven Anklang finden.
Ein Ignorieren der Spaltung birgt das Risiko, nicht nur die Vorteile der agilen Zusammenarbeit zu untergraben, sondern auch langfristige Schäden am sozialen Gefüge der Organisation zu verursachen. Ein Handeln, das auf einem Verständnis der zugrundeliegenden sozialpsychologischen und kommunikativen Dynamiken basiert, ist daher dringend geboten.