Eine Geschichte, die sich in vielen Unternehmen wiederholt: Ein Team arbeitet zwei Jahre lang an einer zukunftsweisenden Architektur, investiert Zeit, Energie und Leidenschaft in die Schaffung einer skalierbaren Lösung — nur um dann zu erfahren, dass alles verworfen wird. Zugunsten eines kurzfristigen Ziels, das auf drei Jahre angelegt ist, während man schon jetzt weiß, dass danach alles neu geschrieben werden muss.
Dies ist keine hypothetische Situation, sondern meine aktuelle Realität. Eine Realität, die die Kernthemen aus Simon Sineks “Leaders Eat Last” auf erschreckende Weise widerspiegelt. Bevor wir tiefer in diese konkrete Situation eintauchen, lohnt es sich, die fundamentalen Erkenntnisse aus Sineks Werk zu betrachten.
1. Die Wissenschaft erfolgreicher Führung: “Leaders Eat Last”
Simon Sinek’s “Leaders Eat Last” ist mehr als ein weiteres Führungsbuch. Es ist eine tiefgreifende Analyse der biologischen und sozialen Grundlagen menschlicher Zusammenarbeit. Sinek argumentiert, dass erfolgreiche Führung nicht auf Techniken oder Methoden basiert, sondern auf dem Verständnis fundamentaler menschlicher Bedürfnisse und der biologischen Mechanismen, die unser Verhalten steuern.
1.1 Die biologische Basis von Vertrauen und Zusammenarbeit
Im Zentrum von Sineks Analyse stehen vier Schlüsselchemikalien, die unser Verhalten und unsere Beziehungen steuern:
1.1.1 Die “selfish chemicals”: Endorphine und Dopamin
Endorphine sind unsere natürlichen Schmerzstiller. Sie ermöglichen es uns, physische Herausforderungen zu überwinden und weiterzumachen, wenn es schwierig wird. In der Arbeitswelt helfen sie uns, durch stressige Phasen zu kommen und Hindernisse zu überwinden.
Dopamin ist der “Erfolgschemikaliker”. Er wird freigesetzt, wenn wir Ziele erreichen oder Belohnungen erhalten. Dopamin motiviert uns, Aufgaben abzuschließen und nach messbaren Erfolgen zu streben. Allerdings kann eine zu starke Fokussierung auf dopamingetriebene Belohnungen zu kurzfristigem Denken und süchtigem Verhalten führen.
1.1.2 Die “selfless chemicals”: Serotonin und Oxytocin
Serotonin erzeugt Gefühle von Stolz und Status. Es wird freigesetzt, wenn wir uns respektiert und wertgeschätzt fühlen. Serotonin ist fundamental für das Gefühl von Zugehörigkeit und die Entwicklung von Führungsqualitäten.
Oxytocin, oft als “Bindungshormon” bezeichnet, fördert Vertrauen, Empathie und tiefe soziale Bindungen. Es wird durch Akte der Großzügigkeit und Fürsorge freigesetzt und ist essentiell für den Aufbau starker Teams.
1.2 Der Circle of Safety
Ein zentrales Konzept in Sineks Werk ist der “Circle of Safety” - ein Umfeld, in dem sich Mitarbeiter sicher und geschützt fühlen. Innerhalb dieses Kreises können Menschen ihre beste Arbeit leisten, innovativ sein und Risiken eingehen, ohne Angst vor negativen Konsequenzen.
Der Circle of Safety basiert auf dem Verständnis, dass Menschen am produktivsten sind, wenn sie sich sicher fühlen. Diese Sicherheit ist nicht primär physisch, sondern psychologisch - die Gewissheit, dass Fehler als Lernchancen gesehen werden und dass das Team zusammenhält.
1.3 Destructive Abundance
Sinek warnt vor dem Phänomen der “Destructive Abundance” - wenn Organisationen so sehr auf kurzfristige Erfolge und messbare Metriken fokussiert sind, dass sie die langfristige Gesundheit der Organisation gefährden. Diese Art von Überfluss führt zu einer Vernachlässigung der menschlichen Beziehungen und der Teamkultur.
1.4 Die Gefahr der Abstraktion
Ein weiterer kritischer Punkt in Sineks Analyse ist die Gefahr der Abstraktion in modernen Organisationen. Wenn Beziehungen zu abstrakt werden und Menschen nur noch als Ressourcen oder Zahlen gesehen werden, verlieren Führungskräfte den Bezug zu den realen Auswirkungen ihrer Entscheidungen.
1.5 Dunbar’s Number und die Grenzen menschlicher Beziehungen
Sinek bezieht sich auf Dunbar’s Number - die Erkenntnis, dass Menschen nur etwa 150 stabile Beziehungen aufrechterhalten können. Diese biologische Grenze hat wichtige Implikationen für die Organisationsstruktur und Teambildung.
2. Eine Fallstudie in Kurzsichtigkeit: Analyse einer Management-Entscheidung
Mit diesem theoretischen Fundament können wir nun meine aktuelle Situation analysieren - ein Lehrbuchbeispiel für die von Sinek beschriebenen Gefahren kurzsichtiger Führung.
2.1 Die Ausgangssituation: Eine Vision der Skalierbarkeit
Unser Team arbeitete zwei Jahre lang an einer Microfrontend-Architektur, die perfekt die Prinzipien verkörperte, die Sinek als fundamental für erfolgreiche Organisationen beschreibt:
- Autonomie: Teams sollten unabhängig arbeiten und Entscheidungen treffen können
- Mastery: Klare Verantwortungsbereiche ermöglichen Expertise-Entwicklung
- Purpose: Ein gemeinsames Ziel der langfristigen Skalierbarkeit
Diese Entscheidung für eine Microfrontend-Architektur war nicht nur eine technische Präferenz – sie war eine strategisch durchdachte Antwort auf die Herausforderungen eines wachsenden Produktportfolios. Ähnlich wie bei der Microservices-Architektur im Backend-Bereich bietet der Microfrontend-Ansatz entscheidende Vorteile, die direkt mit den von Sinek beschriebenen Grundbedürfnissen erfolgreicher Teams korrelieren.
Der fundamentale Unterschied zu einer monolithischen Single-Page-Application liegt in der losen Kopplung der Komponenten. Statt einer eng verwobenen Codebasis, in der jede Änderung potenziell das Gesamtsystem gefährdet, ermöglicht die Microfrontend-Architektur eine klare Trennung der Verantwortlichkeiten. Jedes Team kann seinen Bereich unabhängig entwickeln, testen und deployen – ein perfektes Beispiel für die Autonomie, die Sinek als essenziell für intrinsische Motivation beschreibt.
Die Skalierbarkeit einer solchen Architektur zeigt sich auf mehreren Ebenen. Technisch ermöglicht sie die unabhängige Skalierung einzelner Module, was zu einer effizienteren Ressourcennutzung führt. Organisatorisch erlaubt sie das parallele Arbeiten mehrerer Teams ohne ständige Abstimmung und Konflikte. Die Fehlerisolierung verhindert, dass Probleme in einem Bereich die gesamte Anwendung beeinträchtigen – ein Aspekt, der direkt mit dem von Sinek beschriebenen “Circle of Safety” korrespondiert, in dem Fehler lokalisiert und ohne Schuldzuweisungen behoben werden können.
Besonders wertvoll ist die Möglichkeit der Technologievielfalt. Teams können die für ihre spezifischen Anforderungen optimalen Werkzeuge wählen, was die Expertise-Entwicklung (“Mastery”) fördert und die Motivation steigert. Die verbesserte Wartbarkeit durch kleinere, verständlichere Codebasen reduziert den kognitiven Aufwand und ermöglicht schnellere Innovationszyklen.
Erfolgreiche Unternehmen wie Amazon, Netflix und Spotify haben ähnliche Architekturen implementiert, um genau diese Vorteile zu nutzen. Sie erkannten, dass die technische Architektur direkt die organisatorische Struktur und Kultur beeinflusst – ein Prinzip, das als Conway’s Law bekannt ist und sich perfekt mit Sineks Beobachtungen zur Teamdynamik deckt.
Diese Vision der Skalierbarkeit war kein Selbstzweck, sondern das Fundament für eine Organisation, in der Teams autonom, motiviert und produktiv arbeiten können. Es war eine technische Manifestation der von Sinek beschriebenen biologischen Grundbedürfnisse: Die Microfrontend-Architektur würde Dopamin durch schnelle, sichtbare Erfolge freisetzen, Serotonin durch klare Verantwortungsbereiche und Stolz auf die eigene Arbeit fördern sowie Oxytocin durch verbesserte Zusammenarbeit und gegenseitiges Vertrauen stimulieren.
2.2 Die fatale Entscheidung: Ein Paradebeispiel für Destructive Abundance
Die Management-Entscheidung, unsere zweijährige Arbeit zu verwerfen und auf eine Multi-Product SPA zu setzen, illustriert perfekt die von Sinek beschriebene “Destructive Abundance”:
2.2.1 Fokus auf eine einzelne Metrik
Die Reduktion komplexer Zusammenhänge auf eine einzige Kennzahl zeigt sich in der radikalen Zielvorgabe: 95% der Produkte sollen innerhalb von drei Jahren dekommissioniert werden. Diese Vereinfachung ignoriert bewusst die langfristigen Konsequenzen einer solchen Entscheidung. Die über Jahre entwickelte Teamkultur und -motivation wird dabei als vernachlässigbarer Faktor behandelt. Es ist genau diese Art von eindimensionalem Denken, vor der Sinek in seinem Werk eindringlich warnt.
2.2.2 Abstraktion der Beziehungen
Die menschliche Komponente der Entwicklungsarbeit wurde vollständig abstrahiert. Teams, die über Jahre hinweg erfolgreich zusammengearbeitet und sich entwickelt haben, wurden plötzlich als austauschbare Ressourcen behandelt. Gewachsene Strukturen, die das Fundament erfolgreicher Zusammenarbeit bildeten, wurden mit einem Federstrich aufgelöst. Die menschlichen Kosten dieser Entscheidung - der Verlust von Teamzusammenhalt, geteiltem Wissen und etablierten Arbeitsbeziehungen - wurden als irrelevant eingestuft.
2.2.3 Zerstörung des Circle of Safety
Am dramatischsten manifestiert sich die Situation in der kompletten Zerstörung des von Sinek als essentiell beschriebenen “Circle of Safety”. Die Kündigung eines Teammitglieds sendete eine unmissverständliche Botschaft an alle anderen: Niemand ist sicher, unabhängig von Engagement oder Leistung. Als direkte Konsequenz begannen mehrere Kollegen aktiv nach neuen Stellen zu suchen. Der resultierende Vertrauensverlust und die allgemeine Demotivation sind nicht einfach nur “weiche Faktoren” - sie sind fundamentale Indikatoren für die Zerstörung der Teamgrundlage.
2.3 Die biologischen Konsequenzen
Die Situation zeigt exemplarisch die von Sinek beschriebenen biochemischen Auswirkungen schlechter Führung:
2.3.1 Dopamin-Dominanz beim Management
Die Führungsebene zeigt alle Anzeichen einer klassischen Dopamin-Abhängigkeit im Management-Kontext. Die ständige Fixierung auf kurzfristige, messbare Ziele hat zu einer Art Tunnel-Vision geführt, bei der langfristige Beziehungen und nachhaltige Entwicklung völlig aus dem Blick geraten sind. Diese Sucht nach schnellen Erfolgen manifestiert sich in der Priorisierung einfach messbarer Metriken über komplexere, aber wichtigere Aspekte wie Teamgesundheit und technische Nachhaltigkeit.
2.3.2 Serotonin-Mangel im Team
Die fehlende Anerkennung der geleisteten Arbeit hat zu einem dramatischen Serotonin-Mangel im Team geführt. Der kontinuierliche Verlust von Status und Respekt manifestiert sich in einer schleichenden Erosion der Teamidentität. Wo früher Stolz auf gemeinsame Errungenschaften herrschte, macht sich nun ein Gefühl der Wertlosigkeit breit. Diese biochemische Reaktion ist nicht nur ein emotionales Problem - sie untergräbt die fundamentale Motivation und Leistungsfähigkeit des Teams.
2.3.3 Oxytocin-Verlust durch Teamzerstörung
Am gravierendsten zeigt sich der Verlust von Oxytocin durch die erzwungene Trennung gewachsener Beziehungen. Das Vertrauen und die Sicherheit, die sich über zwei Jahre entwickelt hatten, wurden mit einem Schlag zerstört. Die daraus resultierende Reduzierung von Empathie und Zusammenhalt ist nicht nur ein temporärer Effekt, sondern hat langfristige Auswirkungen auf die Fähigkeit des Teams, als Einheit zu funktionieren.
2.4 Die technischen Konsequenzen als Symptom tieferer Probleme
Die technischen Nachteile der Entscheidung - sechsmonatige Einarbeitungszeit, enge Kopplung, proprietäre Technologie - sind nicht nur technische Probleme, sondern Symptome einer tieferen organisatorischen Dysfunktion:
2.4.1 Verlust von Autonomie
Die Teams wurden ihrer grundlegenden Entscheidungsfreiheit beraubt. Die erzwungene Abhängigkeit von proprietärer Technologie schränkt nicht nur die technischen Möglichkeiten ein, sondern verhindert auch jegliche Form von Innovation. Wo früher Teams selbstständig Entscheidungen treffen und neue Wege erkunden konnten, herrscht nun eine strikte Vorgabe der technischen Rahmenbedingungen.
2.4.2 Zerstörung von Mastery
Die über Jahre aufgebaute Expertise wird mit einem Schlag entwertet. Die extrem langen Einarbeitungszeiten in die proprietäre Technologie wirken zusätzlich demotivierend auf das Team. Technische Exzellenz, einst ein Kernwert des Teams, wird nun dem reinen Tempo geopfert. Diese Entwicklung entspricht genau dem von Sinek beschriebenen Verlust von Sinnhaftigkeit in der Arbeit.
2.4.3 Verwässerung des Purpose
Die langfristige Vision, die das Team zwei Jahre lang antrieb, wurde zugunsten kurzfristiger Metriken aufgegeben. Der Fokus liegt nun ausschließlich auf schnell messbaren Ergebnissen, während die ursprünglichen Ziele der Skalierbarkeit und technischen Exzellenz in den Hintergrund treten. Der Verlust dieser gemeinsamen Richtung hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Teammotivation und -identität.
2.5 Für Führungskräfte
2.5.1 Vertrauen ist fundamental
Die psychologische Sicherheit in Teams ist keine optionale Zusatzleistung, sondern grundlegende Voraussetzung für erfolgreiche Zusammenarbeit. Langfristige Beziehungen müssen aktiv über kurzfristige Gewinne gestellt werden. Transparente Kommunikation in beide Richtungen bildet dabei das Fundament für nachhaltiges Vertrauen.
2.5.2 Balance ist essentiell
Erfolgreiche Führung erfordert ein ausgewogenes Verhältnis zwischen kurzfristigen und langfristigen Zielen. Die Balance zwischen technischer Schuld und menschlichem Kapital muss sorgfältig gewahrt werden. Metriken sind wichtig, dürfen aber nicht zur alleinigen Motivation werden - sie müssen im Kontext der Gesamtentwicklung des Teams betrachtet werden.
2.5.3 Menschen sind keine Ressourcen
Teams funktionieren wie lebende Organismen, nicht wie austauschbare Maschinenteile. Beziehungen und Vertrauen brauchen Zeit zum Wachsen und Reifen. Die Erkenntnis, dass Vertrauen viel schneller zerstört als aufgebaut werden kann, sollte jede Management-Entscheidung beeinflussen.
3. Die Lehren: Ein Weckruf für moderne Organisationen
Diese Situation ist mehr als ein einzelner Managementfehler - sie ist ein Weckruf für moderne Organisationen. Sie zeigt, wie die von Sinek beschriebenen Prinzipien in der Realität zusammenhängen und wie ihre Missachtung zu einer Abwärtsspirale führen kann.
4. Fazit: Der wahre Preis kurzfristigen Denkens
Die aktuelle Situation in unserem Unternehmen bestätigt auf schmerzliche Weise Sineks zentrale These: Führung, die Menschen als austauschbare Ressourcen behandelt und kurzfristige Gewinne über langfristige Gesundheit stellt, zerstört genau die Grundlagen, die sie für ihren Erfolg braucht.
Die Ironie liegt darin, dass selbst das kurzfristige Ziel durch diese Herangehensweise gefährdet ist. Wie Sinek warnt: “The true cost of leadership privilege comes at the expense of self-interest.” In unserem Fall hat das Management diese fundamentale Lektion ignoriert - mit Konsequenzen, die weit über die nächsten drei Jahre hinausreichen werden.